Als das von Künstlicher Intelligenz generierte Bild des Papstes im vergangenen März im Netz aufpoppte, hatte profashionals das Motiv sofort gepostet. Zu Recht. Denn man kann seine Tragweite gar nicht überschätzen. Die päpstliche Steppjacke fanden natürlich alle lustig. Nur den Modedesigner:innen blieb ein bisschen das Lachen im Halse stecken. Denn sie mussten sich eingestehen, dass sie es auch nicht besser gekonnt hätten. Die Jerseybündchen. Die Kombination aus Stehkragen und Kapuze! Die abgepassten Steppungen in Rumpf und Ärmel!! Der Gürtel aus Moirée!!!
Hier hatte man KI eine alberne Aufgabe gestellt. Selbstverständlich kann sie aber auch ernste Designaufgaben mit gleicher Bravour umsetzen. Wenn man z.B. der KI-Software Midjourney Stichworte gibt wie „Männer, Polohemd, im Stil der 1960er Jahre“ macht sie einem innerhalb von Sekunden mehrere alternative Designvorschläge, aus denen man dann einen oder mehrere auswählen und kombinieren kann. 28 Prozent aller Modeunternehmen experimentieren bereits mit Künstlicher Intelligenz in ihren Design- und Produktentwicklungsprozessen. Es ist klar, dass KI die Arbeit von Modedesigner:innen bis auf Weiteres nicht vollständig ersetzen kann. Ebenso klar ist jedoch auch, dass Künstliche Intelligenz Teile dieser Arbeit übernehmen kann und wird. Im Fall des 60er-Jahre-Polohemdes übernimmt sie zum Beispiel die Recherche und das kreative Brainstorming.
Aber das ist selbstverständlich nur der Anfang. Denn generative künstliche Intelligenz steckt ja noch in den Kinderschuhen. In zukünftigen Anwendungen werden Algorithmen durch Auswertung von Online-Suchen und ‑Käufen analysieren, welche Kleidung die Menschen gerade haben wollen, und Künstliche Intelligenz wird das Ergebnis direkt in konkrete Designvorschläge übersetzen. In solchen weitgehend automatisierten Prozessen sind Designer:innen zwar nicht mehr die Impulsgeber:innen, aber zumindest noch die Kurator:innen, die am Ende entscheiden, welche Vorschläge der KI tatsächlich umgesetzt werden. Genau so arbeitet bereits jetzt das Mode-Start-Up Glitch:
Dass Modesortimente mit Hilfe von digital gewonnenen Daten entwickelt werden, ist selbstverständlich nicht neu. Uns stehen immer mehr Daten zur Verfügung – Abverkaufszahlen, Suchanfragen, Clicks, Views und Likes. Und natürlich nutzen Mode-Industrie und ‑Handel diese Daten, um ihre Entscheidungen auf eine objektive Grundlage zu stellen und den Erfolg von Produkten vorauszuberechnen. Durch selbstlernende KI wird diese Entwicklung noch einmal enorm beschleunigt werden. Die Kleidung, die uns umgibt, wird zunehmend berechnet.
Für viele Mode-Kunden ist das genau das Richtige. Sie mögen es, wenn Mode vorhersehbar und erwartbar ist. Wer sich bei Outfittery anmeldet, will berechenbar sein und berechnet werden. Der Inhalt des Paketes, das man daraufhin erhält, soll nicht überraschen, sondern Erwartungen erfüllen.
Wo Kleidung zunehmend berechnend wirkt, weil sie zunehmend berechnet wird, gewinnt auch das ganz Persönliche wieder an Bedeutung.
Andere Menschen hingegen wollen beim Modekauf nicht von Algorithmen berechnet, sondern von den Ideen anderer Menschen überrascht und inspiriert werden. Sie beobachten mit Bedauern, dass Mode immer kalkulierter wird. „Unkompliziertes war diese Saison in Mailand überall“, beklagt Business Of Fashion. „Rarer war ein Eindruck von persönlicher Mode-Autorenschaft.“ Mode wird eben erst dann zu „Designermode“ im engeren Sinne, wenn Charaktere wie Alessandro Michele ihr ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken.
In Teilen der Modebranche geht es um den subjektiven, individuellen Blick auf die Dinge. Das verbindet die Mode mit der Kunst, deren Nähe sie durch Künstler-Kollaborationen immer wieder sucht. Ein besonders bezeichnendes Beispiel hierfür ist die wiederkehrende Zusammenarbeit von Louis Vuitton mit Yayoi Kusama, einer Künstlerin, die seit vierzig Jahren in einer Nervenheilanstalt lebt. Ähnlich wie das Kunst-Publikum ist eben auch ein Teil des Mode-Publikums bereit, sich auf die kreativen Visionen besonderer Menschen einzulassen, auch und gerade wenn diese Visionen schräg und exzentrisch sind.
Menschen interessieren sich für besondere Menschen. Sie wollen sie kennenlernen und wollen mehr über sie erfahren. Der Werbespot zu dem ersten Parfum von Gabriela Hearst ist wie ein intimes Video-Tagebuch, das der Designerin bis in die Badewanne folgt.
Für seine Balenciaga-Show castete Demna erstmalig nicht Persönlichkeiten, die für ihn eine öffentliche Bedeutung haben, sondern Menschen, die für ihn eine private Bedeutung haben. Er eröffnete die Schau mit einem Auftritt seiner Mutter und beendete sie mit einem Auftritt seines Mannes. Und er erklärt: „Was ich heute gezeigt habe, war wahrscheinlich meine persönlichste und liebste Kollektion, weil es dabei um mich ging.“
In einem Umfeld von Kleidung, die zunehmend berechnend wirkt, weil sie zunehmend berechnet wird, gewinnt auch das ganz Persönliche wieder an Bedeutung. Weil es Seltenheitswert bekommt.
Diese und viele weitere aktuelle Entwicklungen werden auf dem DMI FASHION DAY LIVE am 22. Januar in München präsentiert und diskutiert.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com