85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet, will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt. Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder zu Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Warum wir über Scheinlösungen reden.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen. Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive. Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
- Prozesssichere Materialerkennung
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose
– Trennung von Baumwoll/Elasthan
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RHTW Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“ Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen. Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an. Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei Schrankleichen gegenüber. Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA, sondern zunehmend auch in Ländern wie China, Indien oder Brasilien.
Fast Fashion gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende des Jahres 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Das Aufkommen des Onlinehandels und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Was ist die Lösung?
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Vintage-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum.
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
Allein bei Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in Secondhand-Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen.
Welche Optionen haben wir?
Ziele wie „klimaneutral bis 2030“, erscheinen beruhigend. Klingen sie doch fast so, als ob die Herausforderung schon bewältigt wäre. Der gleiche Konsum in Grün, ganz ohne schlechtes Gewissen. Die Analysen zeigen indes klar: Allein mit besserer Technik ist die Klimakrise nicht zu bewältigen. Es braucht klare gesetzliche Regelungen, Änderungen im Design der Textilien und noch sehr viel Forschung. Dabei ist die größte Herausforderung, die große Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen. Entscheidend ist, dass jeder viele kleine Schritte geht und sein Verhalten ändert. Und zwar ab sofort. Ob im Job oder Privat. Wir haben fast immer die Wahl einer besseren Alternative – ASAP: „as sustainable as possible“.
Bewusster Konsum: Nachhaltige Kleidung fängt nicht bei zertifizierter Bio-Mode an, sondern beim bewussten Konsum. Vivienne Westwood brachte es auf den Punkt: „Qualität statt Quantität: Kaufe weniger, wähle dafür gut aus und trage es möglichst lange.“ Der wichtigste Hebel ist, die Kleidung länger zu tragen, idealerweise bis zum Verschleiß. Das bedingt eine langlebige Qualität, ein zeitloses Design und vor allem, dass man die Kleidung gerne trägt. Der sorgsame Umgang mit Kleidung, sie zu pflegen und zu reparieren ist die beste Form von Nachhaltigkeit. Dies sollte wieder in Familien und Schulen vermittelt werden. Statt gleich neue Kleidung zu kaufen, sollte man zunächst schauen, ob es ein ähnliches Teil auch als Secondhand-Artikel gibt. Das spart meist auch Geld. Ungewolltes sollte man tauschen, umnähen oder als Secondhand verkaufen bzw. spenden. Bewusst einkaufen heißt, jeden einzelnen Kauf zu hinterfragen, erst mal eine Runde um den Block laufen oder eine Nacht darüber schlafen: Ist das Teil wirklich notwendig? Passt das Kleidungsstück zum Rest der Garderobe? Eine Möglichkeit, seine Modelust auszuleben ohne neue Kleider zu produzieren, ist „Virtual Fashion“ z.B. von The Fabricant. Sie wird entweder als Avatar in Games präsentiert oder als Filter über den eigenen Fotos (z.B. von Dressx) auf Instagram, TikTok, etc. als „mixed Reality“ vielfach geteilt. Und schließlich wäre ein Verbot kostenloser Retouren sicher ein Schritt, der viel bewirken könnte.
Hochwertigere Materialien dienen der Erhöhung der Haltbarkeit von Kleidung. Dies ist stark abhängig davon, was Materialien kosten dürfen. Effektiv ist es, bei bewährten Standardqualitäten anzufangen, die in großen Mengen über viele Saisons genutzt werden. Auch eine verpflichtende Nutzung von Recycling-Materialien nach dem Vorbild der Niederlande ist sinnvoll: dort wird für das Jahr 2025 ein Recyclinganteil von 25 Prozent vorgeschrieben. Damit wird ein Markt für Recycling-Materialien geschaffen. Weniger und langlebigere Kleidung bedeutet im Übrigen wertvollere Kleidung und nicht zwangsläufig sinkende Umsätze für Hersteller und Händler. Zudem fallen weniger Transporte an.
Design for Recycling. Die Designphase bestimmt laut Bundesumweltministerium bis zu 80 Prozent der Umweltauswirkungen eines Produkts. Die Haltbarkeit, leichtes Reparieren und Recyceln sind wesentlich beeinflusst von sortenreinen Materialien oder der richtigen Wahl von Verzierungen und Aufdrucken. Hinzu kommt, dass alle Komponenten wie Stoffe, Reisverschlüsse, Nieten, Knöpfe oder Applikationen gut getrennt werden können. Das gibt auch Chancen für eine neue, spezifische Ästhetik. Design for Reycling ist noch vor allem Theorie, es gibt bislang wenig Wissen, Aus- und Fortbildung oder gar Kollektionen. Die EU-Textilstrategie sieht 2024 die Einführung verbindlicher Leistungsanforderungen an die ökologische Nachhaltigkeit von Textilerzeugnissen vor sowie einen Mindestgehalt an recycelten Stoffen.
Mehr Forschung: Der Forschungsbedarf ist enorm. Inbesondere durch die EU-Textilstrategie, die verstärkt auf Faser-zu-Faser-Recycling setzt. Weitere Themen sind unter anderem Materialien und Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung von Mikroplastik, neue Geschäftsmodelle (digitale Prozesse, KI-Prognostik), aber auch neue Produktionsmethoden wie z.B. der weitgehend automatisierten Einzelstückfertigung mit 3D-Strick.
Bekämpfung von Greenwashing und geschützte Siegel: Allgemeine Angaben wie „grün“ oder „umweltschonend“ sind nach der EU-Textilstrategie nur noch erlaubt, wenn eine hervorragende Umweltleistung z.B. durch anerkannte Umweltzeichen nachgewiesen wurde. Freiwillige Nachhaltigkeitssiegel müssen sich auf eine Überprüfung durch Dritte stützen oder von Behörden vergeben werden. Zudem gibt es EU-Mindestkriterien für Angaben wie „klimaneutral bis 2030“. 2024 werden die Kriterien des EU-Umweltzeichens für Textilien und Schuhe überarbeitet. Zudem prüft die Kommission die Einführung eines digitalen Etiketts. Das wäre eine große Hilfe beim Recyling.
Gesetzliche Regelungen: Ähnlich wie für Verpackungen, Fahrzeuge, Elektro- und Elektronikgeräte plädieren die Verbände Zukunft Textil und BVSE für eine Entsorgungsgebühr im Rahmen der „erweiterten Herstellerverantwortung“ (EPR) nach dem Vorbild von Frankreich (seit 2007), Estland (2015), Bulgarien (2021), Italien (2022), Finnland, Dänemark, Schweden, Niederlande (alle ab 2023) und Portugal (ab 2025). Auch die EU-Textilstrategie plant solche Gebühren. Der umfangreiche Maßnahmenkatalog der EU-Textilstrategie sieht unter anderen vor:
– Verbote für die Vernichtung unverkaufter Produkte und von Retouren
– Bekämpfung der Umweltverschmutzung durch Mikroplastik
– Anreize und Leitlinien (2024) für die Kreislaufwirtschaft, wie Wiederverwendung, Vermietung, Reparatur und dem Einzelhandel mit Secondhandmode inkl. Designkriterien sowie Technologie-Fahrplan für das Textilrecycling (2022).
– Förderung von Forschung und Investitionen in Innovationen, wie z.B. neuen biobasierten Textilfasern
– Nachhaltigkeitspflichten für Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten und mehr als 40 Millionen Euro Umsatz (2023)
– Grenzübergreifende Marktüberwachung und Bekämpfung von Nachahmungen (2022)
Haben wir eine Wahl?
Am Ende bedroht der Überkonsum nicht nur die Umwelt, sondern auch viele Geschäftsmodelle. „Die globale Bekleidungsindustrie steht an einem Wendepunkt, an dem der nachhaltige Umgang mit Ressourcen über ihre Zukunftsfähigkeit entscheiden wird“, sagt Ingeborg Neumann, Präsidentin des Spitzenverbandes Textil + Mode. Und für den Handel sind laut dem Institut für Handelsforschung die Folgen einer Nachhaltigkeitsorientierung gravierender als die Digitalisierung. „Durch einen Konsumverzicht wird die Grundlage des Geschäftsmodells entzogen. Nachhaltigkeit ist also keine Strategieoption, sondern muss als Fundament angesehen werden.“
Da die Geschäftsgrundlage bedroht ist, müssen Investoren und Aufsichtsräte auf die Transformation des Kerngeschäftes drängen und sollten sich nicht weiter von Vorzeigeprojekten blenden lassen. Dafür benötigen sie zwingend Sachverstand entlang der gesamten textilen Kette, um überhaupt die richtigen Fragen stellen zu können. Und sie müssen die notwendigen Investitionen zur Verfügung stellen.
Die Herausforderungen sind so groß, dass wir viel stärker in Alternativen denken sollten. Fatal wäre, wenn wir uns zu früh auf ersten Achtungserfolgen ausruhen. Gerade Medien kommt hier eine Verantwortung zu, erste Forschungsergebnisse nicht als neue Realität anzukündigen.
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann und Studium des Designmanagements arbeitet Joachim Schirrmacher seit über 20 Jahren als Autor (Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. www.schirrmacher.org
Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH. Dieser steht 2022 unter dem Thema „Re:Create Fashion“ und zeichnet erstmals keine neuen Modedesigns aus, sondern es gilt, aus Altkleidung neue kreative Looks zu schaffen. Der FASH wird getragen und finanziert von der Messe München, die Soex Gruppe unterstützt mit mehreren Tonnen Alttextilien und bei der Durchführung vor Ort. Der europaweit ausgeschriebene Wettbewerb ist mit 5.000 Euro dotiert. Infos zu Aufgabenstellung und Anmeldung gibt es hier. Anmeldeschluss ist der 15. Juni, Einsendeschluss der 22. Juni 2022.