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Wenn Tik Tok zum Kaufhaus wird

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Jür­gen Mül­ler

Es ist, wenn man es his­to­risch betrach­tet, eine schö­ne Poin­te: Die Chi­ne­sen fun­gier­ten über Jahr­zehn­te ledig­lich als Werk­bank aus­län­di­scher Brands. Um sich unab­hän­gi­ger zu machen, haben die Pro­du­zen­ten immer wie­der ver­sucht, eige­ne Mar­ken nach west­li­chem Vor­bild auf­zu­bau­en. Das hat nicht funk­tio­niert. Nun rol­len sie den Welt­markt auf ande­re Wei­se auf: mit digi­ta­len Markt­plät­zen, die als User-Inter­faces für die chi­ne­si­sche Beklei­dungs­in­dus­trie fun­gie­ren.

Dass die Digi­ta­li­sie­rung das Poten­zi­al bie­tet, die Ver­ti­ka­li­sie­rung auf die Spit­ze zu trei­ben, war klar. Mit ‚Manu­fac­tu­ring to Con­su­mer‘ hat­te man vor Jah­ren auch bei ZLa­bels gelieb­äu­gelt. Sogar über Pro­duk­ti­on in Bran­den­burg wur­de nach­ge­dacht. Zalan­do hat sei­ne unpro­fi­ta­ble Eigen­mar­ken­schmie­de dann aber im Zuge sei­ner Markt­platz­aus­rich­tung abge­wi­ckelt.

Jetzt haben die Chi­ne­sen die Visi­on umge­setzt, und das im ganz gro­ßen Stil. Shein wird auf 30 Mil­li­ar­den Umsatz geschätzt und steht wohl vor dem Bör­sen­gang, der laut Bloom­berg eine 90 Mil­li­ar­den Bewer­tung ein­brin­gen soll. Temu wur­de erst 2022 gegrün­det und seit­her von Mut­ter­kon­zern Pin­duo­duo mit Mil­li­ar­den­in­vests in den Markt gedrückt. Die App wur­de 2023 über 338 Mil­lio­nen Mal her­un­ter­ge­la­den. Die Mel­dun­gen, nach denen die bei­den Bil­lig­an­bie­ter täg­lich angeb­lich 400.000 Pake­te nach Deutsch­land ein­flie­gen las­sen, mag man kaum glau­ben. Ist nicht gera­de Kon­sum­kri­se? Ali­baba plant Medi­en­be­rich­ten zufol­ge dem­nächst Tmall nach Deutsch­land zu brin­gen. Last but not least muss man davon aus­ge­hen, dass hier­zu­lan­de dem­nächst auch noch Tik Tok zum Kauf­haus wird.

In Chi­na ist dies längst soweit. Im ver­gan­ge­nen Jahr soll über die Tik Tok-Schwes­ter Douy­in Ware für umge­rech­net über 300 Mil­li­ar­den Dol­lar ver­trie­ben wor­den sein, ein Zuwachs um 40 Pro­zent, schreibt das Wirt­schafts­me­di­um Late Post. Fast 100 Mil­li­ar­den set­ze der Mut­ter­kon­zern Byte­dance bereits um. Jetzt setzt das Unter­neh­men auch inter­na­tio­nal zum gro­ßen Sprung an. In den USA und Groß­bri­tan­ni­en kann man bereits bei Tik Tok ein­kau­fen, in Indo­ne­si­en, wo Tik Tok Shop wegen dort unzu­läs­si­ger Ver­mi­schung von Shop­ping und Social Media ver­bo­ten wur­de, über­nahm man kur­zer­hand den Markt­platz Toko­pe­dia für 1,5 Mil­li­ar­den Dol­lar. Es dürf­te nur eine Fra­ge der Zeit sein, bis auch die über 20 Mil­lio­nen monat­li­chen User in Deutsch­land mit Pro­duk­ten ‚Made In Chi­na‘ beglückt wer­den.

Shein und Tik Tok berauben den stationären Einzelhandel der Illusion, nur er könne so etwas wie ein Einkaufserlebnis kreieren.

Die Chi­ne­sen stel­len indes nicht nur die Sup­p­ly Chain auf den Kopf, son­dern sie revo­lu­tio­nie­ren auch das Ein­kaufs­er­leb­nis. Gegen Rum­mel­plät­ze wie Shein und Enter­tain­ment-Maschi­nen wie Tik Tok mutet die Ama­zon-Web­site an wie der Ersatz­teil­ka­ta­log eines Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rers. Zugleich berau­ben die­se Online Play­er den sta­tio­nä­ren Ein­zel­han­del der Illu­si­on, nur er kön­ne so etwas wie ein Ein­kaufs­er­leb­nis kre­ieren. Einer Gene­ra­ti­on, die bekannt­lich unter ‘Spei­se­kar­ten­angst’ lei­det und Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen mit Ser­vice­per­so­nal scheut, kommt der unver­bind­li­che Spon­tan­kauf mit Rück­sen­de-Opti­on sehr ent­ge­gen. Auch wenn die meis­ten ihre bil­li­gen Fehl­käu­fe dann nicht zur Post, son­dern direkt zum Müll­ei­mer tra­gen.

Eine Kon­kur­renz bedeu­ten die neu­en Anbie­ter schließ­lich auch für die ande­ren Markt­platz­an­bie­ter. Denn man muss davon aus­ge­hen, dass sie über kurz oder lang auch hie­si­ge Brands für ihre Platt­for­men gewin­nen wer­den wol­len. In den USA pas­siert das bei Temu bereits, und auch in Groß­bri­tan­ni­en ist Tik Tok im ver­gan­ge­nen Jahr schon auf Akqui­se gegan­gen. Das dürf­te aus Sicht von Zalan­do & Co den Druck auf die Pro­vi­sio­nen erhö­hen. In den USA hat Ama­zon unlängst die Platt­form-Gebüh­ren für Fast Fashion-Anbie­ter dras­tisch gesenkt.

Eine ganz ande­re Fra­ge ist frei­lich, ob die Bil­lig-Markt­plät­ze das pas­sen­de Umfeld für höher­wer­ti­ge Mar­ken sind. Schon Ama­zon ist für vie­le eine No-Go-Area, und auch Zalan­do stößt bei sei­nen Tra­ding-up-Anläu­fen gegen ver­schlos­se­ne Türen. War­um soll­te es im Inter­net anders lau­fen als sta­tio­när – Hugo Boss ver­kauft schließ­lich auch nicht bei Kik.

Die Zusam­men­ar­beit mit einem Ramsch­la­den wie Temu ver­bie­tet sich für selek­tiv dis­tri­bu­ie­ren­de Mode­mar­ken erst recht. Aber es gibt ja noch genug ande­re Kon­sum­gü­ter, wo allein Reich­wei­te aus­schlag­ge­bend ist. Am ehes­ten hät­te viel­leicht Tik Tok Shop das Poten­zi­al als Mode­mar­ken-Umfeld. Dage­gen ste­hen die Ansprü­che der Nut­zer, die zuviel Ver­kau­feting beim Zeit­tot­schla­gen nicht mögen: Steigt der E‑Com­mer­ce-Anteil auf über 8 Pro­zent, so eine Stu­die, sin­ken Nut­zungs­dau­er und Kun­den­bin­dung. Zugleich kann man davon aus­ge­hen, dass die Anbie­ter krea­ti­ve Mög­lich­kei­ten fin­den wer­den, die User den­noch bei der Stan­ge zu hal­ten. Viel­leicht ist das auch ein Hin­ter­grund für die 30 Minu­ten-Vide­os, die Tik Tok Medi­en­be­rich­ten zufol­ge ein­zu­füh­ren plant.

Bis­lang waren die Social Com­mer­ce-Anläu­fe hier­zu­lan­de nicht sehr erfolg­reich. Face­book und Insta­gram bie­ten seit län­ge­rem Lösun­gen an. Live Shop­ping, das in Chi­na sehr beliebt ist, haben die Meta-Töch­ter indes wie­der ein­ge­stellt. In Deutsch­land wird die­ses Ange­bot vor allem von Ziel­grup­pen gou­tiert, die nachts vor dem Fern­se­her ein­ni­cken. Aber auch die Gen‑Z kommt ja mal in die Jah­re. Exci­ting Com­mer­ce berich­tet vom ers­ten Pro­dukt, das in USA auf Tik Tok Shop viral ging und über 1,2 Mil­lio­nen Mal ver­kauft wur­de: eine Mund­spü­lung für wei­ße­re Zäh­ne. Letzt­lich, schreibt Jochen Krisch, dürf­te bei Tik Tok & Co. das gut lau­fen, was übli­cher­wei­se auch im Tele­shop­ping funk­tio­niert: Wun­der­pro­duk­te und prak­ti­sche Hel­fer­lein, von denen man sich spon­tan über­zeu­gen lässt. Wer gezielt Pro­duk­te sucht, ist mit den Fil­ter­funk­tio­nen von Ama­zon bes­ser bedient.

Auf Regulierung durch die Politik sollte man besser nicht warten, auch wenn diese im Fall der wettbewerbsverzerrenden Angebote angezeigt wäre.

Aber auch wer schö­ne Din­ge ver­kauft, muss die neu­en Mit­be­wer­ber ernst neh­men. Denn sie kon­kur­rie­ren um die­sel­ben Kon­sum­bud­gets. Auf Regu­lie­rung durch die Poli­tik soll­te man bes­ser nicht war­ten, auch wenn die­se im Fall der Umwelt- und Sozi­al­stan­dards viel­fach igno­rie­ren­den und wett­be­werbs­ver­zer­ren­den Zoll­frei-Impor­te ange­zeigt wäre. Ein poli­tisch initi­ier­tes Decou­pling der Welt­wirt­schaft, das auch die digi­ta­le Glo­ba­li­sie­rung betref­fen wür­de, kann sich eben­falls nie­mand, der bei Trost ist, wün­schen.

Viel­leicht wäre es das Bes­te und ganz im Sin­ne von Kon­fu­zi­us, von den Chi­ne­sen zu ler­nen: wie man neue, ani­mie­ren­de Ein­kaufs­er­leb­nis­se schafft, und wie man Lie­fer­ket­ten baut, die eine effi­zi­en­te­re und nach­fra­ge­ge­rech­te­re Mode­pro­duk­ti­on ermög­li­chen. Das ist schließ­lich kein Pri­vi­leg der Bil­lig­an­bie­ter.

Und wer weiß, ob mit dem KI-gestütz­ten Tele­fon, das die Tele­kom gera­de in Bar­ce­lo­na vor­ge­stellt hat, nicht bereits die nächs­te Revo­lu­ti­on anrollt. Das Device funk­tio­niert auf Zuruf, ganz ohne Apps – “wie ein digi­ta­ler But­ler statt eines Sau­hau­fens aus Ser­vice­mo­du­len”, so die SZ.

Ent­wi­ckelt hat auch die­ses Kon­zept übri­gens ein Chi­ne­se, Jer­ry Yue (31). Wenn sich das durch­setzt – was machen Shein und Temu denn dann?

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