Liest man die Bilanz-Berichterstattung der vergangenen Wochen quer, fallen zwei Dinge auf. Erstens: Die Mode-Industrie hat in einem nicht einfachen Jahr 2011 glänzende Geschäfte gemacht und ist zügig gewachsen – die Brinkmann-Gruppe (+4%), Brax (+6%), Ahlers (+6,6%), Creation Gross (+7%), Bogner (+9%), Digel (+13%), Marc Cain (+13,5%), Olymp (+26%). Jack Wolfskin steigerte den Umsatz 2011 um sagenhafte 22,5%. Adidas wuchs um 11%. Hugo Boss verkündete diese Woche ein Umsatzplus von 19%. Der Gesamtverband Textil und Mode meldete für die deutsche Industrie 2011 eine Wachstumsrate von insgesamt 7,1% bzw. für die Bekleidungsindustrie ein Plus von 6%. Es geht der Branche – von Ausnahmen, die es immer gibt, abgesehen – gut.
Analysiert man, woher das Wachstum kommt, stößt man auf die zweite Auffälligkeit: Neben dem anziehenden Exportgeschäft ist es vor allem der Direktvertrieb, der das Geld in die Kassen bringt. Desigual will bis zu 80 Läden hierzulande eröffnen, auch Scotch & Soda hat ehrgeizige Retail-Pläne. Brax plant international 20 neue Stores. Seidensticker begibt eine Anleihe, u.a. um Geld für den Aufbau eines eigenen Ladennetzes einzusammeln. Gerry Weber eröffnet ein House of Gerry Weber nach dem anderen und übernimmt vor ein paar Wochen 200 Wissmach-Standorte auf einen Schlag. Adidas startet seine Retail-Expansion in Deutschland mit Neo, weltweit hat die Gruppe im vergangenen Jahr 323 Adidas‑, Reebok- und Neo-Stores eröffnet. Zum Jahresende betreiben die Herzogenauracher über 2400 Läden mit einer Gesamtverkaufsfläche von 670.000 m². Genug, um 20 durchschnittliche ECE-Einkaufszentren zu belegen. Auch Hugo Boss hat bereits 622 Läden, 85 mehr als noch vor Jahresfrist.
Das alte Argument, als Hersteller brauche man eigene Läden, um die Marktchancen und Flächenfähigkeit seiner Produkte auch im Interesse der Einzelhandelskunden besser abschätzen zu können, ist zwar richtig, aber nicht die einzige Triebfeder. Spätestens wenn einer einen eigenen Online-Shop eröffnet, weiß man, dass das gerne vorgeschoben ist. Auch geht es nicht allein darum, wegbrechende Wholesale-Umsätze zu substituieren. In einem insgesamt stagnierenden Markt verbucht der Direktvertrieb Marktanteilsgewinne. Das muss auf Kosten der etablierten Anbieter gehen – also auch der eigenen Kunden. So werden die eigenen Lieferanten immer mehr zur Konkurrenz. Wann wird der Handel sie als solche behandeln?
Tatsächlich ist es so, dass viele Multilabel-Händler auf den Direktvertrieb ihrer Lieferanten heute häufig nur noch mit einem Achselzucken reagieren. Man scheint sich daran gewöhnt zu haben, dass man Labels groß macht, die einem irgendwann in der eigenen Fußgängerzone Konkurrenz machen. Dabei wird die teure Store-Expansion der Marken nicht selten aus den Wholesale-Erträgen finanziert. Der Handel subventioniert also seine eigene Konkurrenz – das ist ungefähr so, als zahle er monatlich in einen Hilfsfonds für notleidende Vertikale ein. Denn renditeschwach, wenn nicht gar verlustträchtig, das sind die von Lieferanten betriebenen Ladenketten nicht selten.
Es ist keine neue Erkenntnis, aber es schadet auch nichts, gelegentlich darauf hinzuweisen: Die Industrie unterschätzt die Komplexität des Einzelhandels-Geschäfts. So wie der Handel es nicht versteht, welcher Aufwand notwendig ist, aus Private Labels echte Marken zu machen. Für viele umsatzstarke und internationale Marken ist der Weg in den eigenen Retail trotzdem alternativlos. Es sei denn, sie fühlen sich in der Nische wohl. Mit Delikatessen kann man bekanntlich auch gutes Geld verdienen. Die Logik des Massen-Marktes, in dem Profil und Profit den Wettbewerb entscheiden, zwingt die Unternehmen ab einer bestimmten Größenordnung jedoch in die Vertikalisierung. Das dauert. Einen Laden zu eröffnen, hat mit Einzelhandel nämlich so viel zu tun, wie die Hochzeit mit der Ehe. Wer sich auf diesen Weg begibt, braucht Geld und Geduld. Die Frage ist, wie viel Zeit sich die Unternehmen dafür lassen. Lassen können. Denn zu schön sind die Wachstumsraten, die man über eigene Läden und einen Web-Shop erzielen kann. Finanzinvestoren oder Börse wollen beeindruckt werden. Und wenn die Inhaber primär kurzfristige finanzwirtschaftliche Ziele verfolgen, ist die Verlockung groß, den Umsatz über eine schnelle Flächenexpansion aufzublasen. Was dem langfristigen Erfolg nicht unbedingt und in jedem Fall zuträglich ist.
Was kann der Multilabel-Fachhandel dagegen tun? Er muss diese Entwicklung nehmen, wie sie ist. Entscheidend ist, ob man als Händler mit einer Marke Geld verdient oder nicht. Ansonsten gibt es im Einkauf immer eine Alternative.
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Und nächste Woche?
Geht’s weiter mit Bilanzvorlagen: Unter anderem mit Inditex, Nike, Tom Tailor, Douglas und Metro. Schwerstarbeit für Journalisten und Analysten.
Und am Donnerstag findet in Frankfurt der Partnerschaftskongress 2012 von TW und BTE statt. Da können die Partner aus Handel und Industrie dann ja die oben beschriebene Thematik diskutieren.
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