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„Hauptsache die Toten haben die Haare schön“

Jürgen Müller

Erst Lockdown, jetzt auch noch Flockdown. Vor Corona hätte ein Winterausbruch wie in dieser Woche den Einzelhandel in Katastrophenstimmung versetzt. Von wegen Erreichbarkeit der Innenstädte, Interesse an neuer Frühjahrsware und so weiter. Aber das Wetter, diese Standardausflucht der Kaufleute für Umsatzminus und Missmanagement, interessiert zurzeit keinen. Außer vielleicht die bemitleidenswerten Kuriere, die die Online-Bestellungen bei Schneesturm und Eisglätte ausliefern müssen.

Genießen kann man das perfekte Winterwetter freilich kaum, wenn man nicht weiß, wie’s weitergehen soll. Die Regierung redet zwar neuerdings von „Perspektivplan“, was so klingt, als habe man die Situation im Griff. Aber es ist weder eine klare Perspektive noch ein konkreter Plan da. Dass die Politik weiterhin auf Sicht fährt und Festlegungen scheut, wo die Mutanten sich auch hierzulande breit machen, ist verständlich. Allein, es strapaziert die Nerven der Bevölkerung und verlängert die Depression der Kaufleute.

Denen bleibt nur die Hoffnung auf einen Nachholeffekt, wenn die Geschäfte dann mal wieder öffnen sollten. Die Bilder aus Österreich, wo die Kunden diese Woche vor Modeläden Schlange standen, nähren diese Hoffnung. Geld ist ja da. Die Sparquote ist von 11 auf 16 Prozent gestiegen. 330 Milliarden haben die Deutschen allein in 2020 zurückgelegt, was nicht nur mit Angst und Geldnot zu tun hat, sondern auch mit dem erzwungenen Konsumverzicht. Soviel Klopapier können die Leute gar nicht verbrauchen, wie sie sonst für Reisen, Kleidung und Restaurantbesuche ausgeben. Stattdessen kaufen sie sich Haustiere; schätzungsweise eineinhalb Millionen Hunde wurden 2020 zusätzlich angeschafft (womöglich auch, um einen Grund mehr zu haben, mal an die frische Luft zu gehen). Gefragt sind Putzmittel (die Hunde sind halt anfangs nicht stubenrein). Der anfängliche Run auf Sexspielzeug soll hingegen nachgelassen haben (man hat ja jetzt den Hund… okay extrem geschmackloser Witz). Positiv: Auch die Spendenbereitschaft hat zugenommen. Offenbar denken die Menschen im Ausnahmezustand nicht nur an sich, sondern auch an andere. Ein schönes Signal.

Wir gönnen den Friseuren den früheren Termin, aber für alle anderen ist die Verlängerung des Lockdowns bis zum 7. März eine Katastrophe. Dass manche nun dagegen juristisch vorgehen und auf Schadenersatz klagen wollen, ist ein verständlicher Ohnmachtsreflex. Auf 15 Milliarden schätzt der BTE den Verlust für den Modehandel bis Ende Februar. In vielen Fällen wird die bisher in Aussicht gestellte Unterstützung nicht  ausreichen, um das Überleben zu sichern. S.Oliver-Chef Claus Dietrich Lahrs beklagte am Montag in der FAZ und am Mittwoch im Deutschlandradio zu Recht, dass größere Unternehmen von vielen staatlichen Hilfen ausgeschlossen sind. „Sind unsere 12.000 Mitarbeiter weniger wert als die 12 in der Boutique?, sekundierte Ernsting’s Family-CEO Timm Homann laut TW in einem Clubhouse-Talk. Hier werden Unternehmen willkürlich zwangsenteignet, das ist frustrierend. „Hauptsache die Toten haben die Haare schön“, so der bittere Tweet von Olaf Kohlbrück (LZ).

Die Krise schlägt im zweiten Lockdown nun auch voll auf die Industrie durch. „Einkauf? Jetzt?“ titelte die TW neulich, und die Fragezeichen sind fast noch zu klein ausgefallen. Die Läger sind voll und die Kassen leer. Es ist die härteste Orderrunde aller Zeiten. Weil viele Handelskunden ihre Warenannahme geschlossen haben, stapeln sich bei den Lieferanten die Container auf dem Hof oder auf zu immens gestiegenen Preisen angemieteten Lagerflächen, und anders als der Einzelhandel kann die Industrie den Wertverlust von Winter-Saisonware nicht auf die Fixkosten aufschlagen. Die Abschleuskanäle sind ebenfalls verstopft, die Kilopreise im Keller, wenn die Aufkäufer überhaupt noch Ware annehmen. Und am Ende wird massenhaft Markenware aus unkontrollierbaren Quellen zu Billigpreisen die Geschäfte verderben. Auch wenn die Pandemie eines Tages überwunden sein wird, wird der Markt noch lange brauchen, um sich von dieser Verstopfung zu erholen.

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8 Antworten zu “„Hauptsache die Toten haben die Haare schön“

  1. Liebe ehemaligen Kollegen der Fashion Branche aber vor allem an alle die sich von dieser momentanen Politik nicht mehr einverstanden erklären.….

    Vorab und leider muss dieses Statement vorab sein: ich bin kein Corona Leugner, ganz im Gegenteil, wir sind privat von Corona massiv betroffen.

    Meine Botschaft, was die wirtschaftliche und politische Umsetzung betrifft, steht im Kontext zu den momentanen politischen Entscheidungen der Bundesregierung BRD.

    Es ist meine private Meinung.

    Ich persönlich meine: Es reicht schon lange…

    Eine nicht mehr nachvollziehbare Lock Off, Lock Down, Lock Light, Lock evtl. und noch schlimmer in jedem Bundesland anders.

    Die wirtschaftlichen Folgen sind ein Themenfeld: Baumärkte und Gartencenter müssen geschlossen sein. Auch andere mittelständische Händler, die dieses Sortiment anbieten dito.

    Besucht man die marktbekannten Discounter oder Grossflächen ( Real z.B. ) : natürlich bieten diese, neben den systemrelevanten Lebensmitteln auch diese Bausteine an.

    Fashion: eine schlichte und uns allen bekannte Thematik: auch hier haben die oben genannten systemrelevanten Anbieter die Versorgung übernommen.

    Die Beschaffung von Büromaterial oder anderem Material für das Office?

    Man wird quasi auf den Onlinemarkt gezwungen. Warum ist die Ausstattung von Büros nicht systemrelevant?

    Eine Frisur kann ggf. mal warten, Büromaterial nicht.

    Ich gönne allen Friseuren ihr Business aber vielleicht mag dieses Beispiel dem ein oder anderen sagen um was es hier geht?

    Eine gnadenlose Ungerechtigkeit, verbunden mit der Frage ob die heute geltenden Corona Massnahmen irgendeinen Sinn haben?

    Wir wissen doch schon lange: nur eine Immunisierung der Bevölkerung ( Impfung ) kann den Status Quo ändern langfristig.

    Daher: welche Anstrengungen haben denn die Volksvertreter unternommen, um unsere Gesellschaft kurzfristig zu schützen?

    Es bleiben, wenigstens für mich, eine Menge an Fragen.

    So lange diese nicht viel zu beantworten sind:

    momentan wird das Rückgrad der deutschen Wirtschaft systemhaft zerstört.

    Unser Mittelstand!

    Das sind Menschen wie Du und ich, die ein Unternehmen oder eine Dienstleistung anbieten oder einfach Messebauer, Fotographen oder sonstige Selbstständige sind, ohne die wir nicht leben können.

    Ein mir bekannter Gastronom mit 90 Mitarbeitern hat seit dem 1. Lockdown eine Abschlagszahlung von Euro 10.000,- erhalten.

    Man kann sich leicht vorstellen, wie weit man mit einer solchen Hilfe kommt, mit einer Mietlocation in 1a Lage Hamburgs und der noch im guten Glauben 200.000 Euronen für ein neues Lüftungskonzept investiert hat?

    Aber: meine Bücher sind voll von solchen Beispielen.

    Das ist dann eine Seite der Medaille, über die man in ARD und ZDF leider gar nichts hört oder wenn dann nach 23:00:

    die Betroffenen bekommen keine Hilfe, die Liquidität schmilzt Tag für Tag.

    Meine Forderung:

    1. Gleichstellung von Mittelstand zu Grosskonzernen

    2. Schluss mit den Handelsbehinderungen wenn ein vernünftiges Hygienekonzept vorliegt ( dazu: unser lokales Gartencenter liefert kontaktlos auf Rechnung ) also warum dürfen solche Unternehmen nicht öffnen?

    3. kurzfristige und unbürokratische Hilfe mit sofortiger Zahlung für alle Unternehmer die Opfer der Pandemie sind.

    Bevor ein gefällt mir oder sonstiges Ungemach verteilt wird:

    teilt diese Botschaft, am besten mit Euren eigenen Worten und sprecht Eure politischen Kommunalvertreter an.

    Danke für das Lesen

  2. Der Arzt zum Textilfachhändler: Es tut mir sehr leid, aber sie haben nur noch 3 Monate zu leben. Darauf der Textilfachhändler: Von was denn?

  3. Leider werden viele Entscheidungen zum Schutz gegen das Corona-Virus getroffen, ohne die Infektionswege und ‑Modalitäten wirklich zu kennen. Maßgebliche Virologen und große Persönlichkeiten weisen darauf hin, dass eine bessere, differenzierende Kenntnis der Infektionsorte und ‑Gelegenheiten sowie der betroffenen Altersklassen – und der damit einhergehenden unterschiedlichen Gefährdung zu einer anderen, effektiveren Bekämpfung der Epidemie führen wird.
    Große Kreise der Politik und des Journalismus mögen keinen Blick aus dem Tunnel werfen, in dem sie sich befinden – gleichgültig, wie groß und dringend die Notwendigkeit des Erkenntnisgewinns auch sein mag.

  4. Die Politik in diesen Tagen zu loben, wäre wirklich zu weit gegangen. Aber vielleicht darf der erste Blick auf diejenigen gehen, die die Probleme, die wir nun haben, noch vor der Politik verursachen: Eltern, die für ihre Kinder Parties mit 30 Gästen in Zweizimmerwohnungen ausrichten und sich vor der Polizei zu fünft im Klo verstecken. Menschen, die in Shisha-Bars ohne Maske und wie eh und je vor sich hin blubbern, halt ohne Licht. Narren (und wie es zutrifft), die trotz aller Warnungen einen Faschingsumzug durchführen. Maskengegner, die sich damit nicht an die Mindestregeln halten. Wenn 100% der Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Lage wären, sich an das Mindeste zu halten und nicht nur 95%, wären die meisten Maßnahmen schlicht unnötig. Damit rede ich keinen politischen Missstand schön und nehme weder Bund noch Länder in Schutz. Aber ich ziele auf diejenigen, auf die ich ganz persönlich als erstes sauer, stinksauer bin: Die Vollpfosten unter uns.

  5. Lieber Herr Müller!

    Passende Headline ansonsten heute wenig Zustimmung!

    Leider vergreifen auch Sie sich nicht im Ton denn diese Regierung verdient kein Verständnis!

    Tatsächlich sind die jüngsten Beschlüsse ein weiterer Hinweis auf die unfassbare Beschränktheit der Bundesregierung.

    Dass noch immer keine verlässlichen Zahlen vorliegen, welche dokumentieren, wo und wann sich Menschen tatsächlich infizieren, ist eine Bankrotterklärung für deren IT-Kompetenz.

    (Nur) Anhand dieser liesen sich konkrete Maßnahmen beschliessen und das öffentliche Leben trotz Pandemie virensich wieder hochfahren.
    Rostock lässt grüssen!

    Angesichts der zerstörerischen Folgen der konzeptfreien Beschlüsse für zehntausende Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen, bleibt es rätselhaft, wie still sich diese = wir uns verhalten.

    Immerhin geht es in zahlreichen Fällen um die wirtschaftliche Existenz, um Lebenswerke.
    Sämtliche Politiker verspüren mit höchster Wahrscheinlichkeit keinerlei pandemiebedingte Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Situation – während etliche Unternehmer/Innen ihre Altersversorgung gerade verlieren.

    Davon haben die Politiker/Innen mal gehört – jedoch wirklich verstanden wurde das von jenen noch nicht!

    Wo bleibt der ungefilterte Shitstorm, Parteiaustritte, virtuelle Demonstrationen, brutalstmöglicher Druck auf Landtags- und Bundestagsabgeordnete?

    Wollen wir wirklich still und spurlos abdanken?

    Wir werden von Trotteln regiert. schreibt Jan Fleischhauer, was tatsächlich stimmen könnte.

    Wann werden wir so unverschämt – wie diese Regierung es schon lange ist?

    Mit freundlichen Grüssen

    Volker Warth

    1. In diesen Zeiten möchte ich als Selbständiger Co founder einer Design und Trendagentur zum Ausdruck bringen: mir ist es unverständlich warum es so STILL bleibt.
      Ich will nicht über fehlende Unterstützung nörgeln (wenn ich mit Kollegen aus der Textil und Mode Branche in Italien, Spanien, etc. spreche geht es uns ja echt noch besser).
      AN VOLKER WARTH und alle hier: viele, viele Designer, Grafiker, Künstler, Solo Selbständige etc. sind seit MONATEN ohne Unterstützung unterwegs (.…und alle müssen an Ihre Rentenplanung, Rücklagen etc. ran um zu überleben). Jobs sind schon Reihenweise weggebrochen oder sind gar nicht mehr da.
      Wer immer eine IDEE hat.… Wo bleibt der unge­fil­ter­te Shit­s­torm, Par­tei­aus­trit­te, vir­tu­el­le Demons­tra­tio­nen, bru­talst­mög­li­cher Druck auf Land­tags- und Bundestagsabgeordnete? ich teile es gerne in meinem Netzwerk.

    2. Die Situation ist absolut dramatisch, Herr Warth, da haben Sie recht, und da ist jede Aufregung gerechtfertigt. Und natürlich müssen die Unternehmer entsprechend Alarm schlagen. Ich denke schon, dass das mittlerweile von der Politik gehört, wenn auch leider nicht ausreichend beachtet wurde. Die Bräsigkeit ist in der Tat unerklärlich. Auch versteht man nicht, weshalb ein reiches Land wie Deutschland seine Milliarden nicht etwas unbürokratischer verteilt, um den betroffenen Unternehmen ein paar Monate lang über die Runden zu helfen. Abrechnen könnte man dann ja nach der Krise. Beschimpfungen werden indes nicht weiterhelfen. Wenn man den Behörden einen Vorwurf machen kann, dann ist es das Versagen bei den Impfungen. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie man bei der Planung derart falsch und bei der Beschaffung so knausrig sein konnte und warum man jetzt nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um dieses Desaster zu beheben. Zumal das der einzige Ausweg aus dieser Krise zu sein scheint.

    3. Herr Warth, Ihren Worten gibt es nichts hinzuzufügen.
      Wer organisiert den Aufstand? Was macht eigentlich die Bildzeitung?

Was ist Ihre Meinung dazu?

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