Alle Industrien ächzen unter den sprunghaft gestiegenen Energie‑, Wasser- und Transportkosten. Die Mode aber hat darüber hinaus noch mit ganz eigenen, branchenspezifischen Kostenexplosionen bei den textilen Rohstoffen zu kämpfen. Baumwolle zum Beispiel kostet jetzt doppelt so viel wie vor Corona. Es wäre das Normalste auf der Welt, diese erheblich gestiegenen Herstellungskosten in Form von Preiserhöhungen an die EndkundInnen weiterzugeben. Doch im Gegensatz zu allen anderen Industrien tut die Modeindustrie sich damit schwer damit (Abbildung). Während sich die Preise aller anderen Produkte seit 1990 mehr als verdoppelt haben (rote Linie), hat die Modeindustrie ihre Preise auf wundersame Weise konstant gehalten (blaue Linie).
Zunächst gelang dies, indem die Produktion von Mode in Billiglohnländer verlegt wurde. Weil die Herstellung von Kleidung außergewöhnlich lohnintensiv ist, waren der Kosteneffekt hier größer als bei anderen Produkten. Doch nachdem sämtliche Produktionen verlegt worden waren, war dieses Einsparungspotential ausgeschöpft. Bei den Lohnkosten konnte nicht weiter gespart werden. Also wurde fortan bei den Materialkosten gespart. So hat sich der Polyester-Anteil in unserer Kleidung seit 1990 verdreifacht, so dass sie inzwischen durchschnittlich zu 60% aus Polyester besteht.
Im mittleren Segment des Modemarktes geschieht dieses Trading Down meist nicht vorsätzlich. Die Qualität erodiert vielmehr schleichend, weil man etablierte Eckpreislagen trotz kontinuierlich steigender Kosten nicht aufgibt. Das Ergebnis: Der Verbraucher freut sich beim Kauf über den stabilen Preis, merkt beim Gebrauch aber, dass man ihm gestreckten Stoff verkauft hat, und verliert das Vertrauen in die Marke. In anderen Branchen bestimmt ganz selbstverständlich der Preis des Materials, wie viel das Produkt kosten muss. Nur in der Mode bestimmt meist der Preis des Produkts, wie viel das Material kosten darf.
Genauso geht auch die Fast Fashion an die Sache heran. Nur dass es dort nicht darum geht, Eckpreislagen zu halten, sondern darum, die Konkurrenz zu unterbieten. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Ende der Preissteigerungen und dem Anfang von Fast Fashion um 1990 (Abbildung). Mit nie dagewesenen Niedrigpreisen hatte die erste Generation von Fast-Fashion-Anbietern damals die Welt erobert. Inzwischen haben wir es bereits mit der dritten Generation, den Ultra-Fast-Fashion-Anbietern, zu tun. Und jede neue Generation hat die vorangegangene noch einmal preislich unterboten. So kostet eine Produkt bei Zara (erste Generation) durchschnittlich 37 Euro, bei Shein (dritte Generation) hingegen nur 15 Euro, also fast 60 Prozent weniger.
Während am unteren Ende des textilen Preisspektrums die Preise immer noch weiter nach unten gehen, gehen sie am oberen Ende immer noch weiter nach oben. Die Luxusmarken haben ihre Preise in den letzten Jahren in atemberaubender Geschwindigkeit hochgefahren – allein in den drei Jahren von 2019 bis 22 wurden sie um ein Viertel teurer. 2017 war der Preis für die klassische mittelgroße Flap Bag von Chanel noch gute 5.000 Dollar, 2023 bereits gute 10.000 Dollar. Er hat sich also innerhalb von nur sechs Jahren verdoppelt. Das Gleiche gilt für den Preis der Kelly und der Birkin von Hermès.
Zara fährt seit einiger Zeit Materialqualitäten und Preise hoch, indem sie den Anteil an Premium-Kollektionen ausdehnen. Zwischenzeitlich stieg dadurch der Durchschnittspreis der verkauften Produkte in nur einem Quartal um ganze 23%.
Die stagnierende blaue Linie in der Abbildung muss insofern begriffen werden als der Mittelwert aus den eingefrorenen Preisen im modischen Mittelmarkt, dem Preisdumping in der Fast-Fashion und den explodierenden Preisen für Luxusmode – drei Preisstrategien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die daraus resultierenden betriebswirtschaftlichen Ergebnisse könnten ebenfalls kaum unterschiedlicher sein: Die Luxusanbieter sind die einzigen Marktteilnehmer, die ihre Preise überproportional zu den erheblich gestiegenen Kosten angehoben haben. Dadurch konnten sie sogar im Inflationsjahr 2022 ihre Gewinne um ganze 36% steigern. Im Mittelmarkt hingegen ist der Gewinn um schockierende 64% eingebrochen. Selbst die erfolgsverwöhnte Fast Fashion musste 20% weniger Erfolg melden.
Die Botschaft ist klar: Preisanpassungen sind das Gebot der Stunde. Die Zahlen zeigen, dass große Teile der Industrie sich die niedrigen Preise schlichtweg nicht mehr leisten können. Es ist geradezu eine Frage des Überlebens, die sprunghaft gestiegenen Kosten in angemessener Weise an die KonsumentInnen weiterzugeben.
Man könnte einwenden, dass wenn die Luxusmarken ihre Preise erhöhen können, das doch noch lange nicht bedeutet, dass auch die anderen sich das erlauben können. Dem wäre das Beispiel Zara entgegenzuhalten: Die Spanier fahren bereits seit einiger Zeit ihre Materialqualitäten und Preise hoch, indem sie den Anteil an Premium-Kollektionen am Sortiment ausdehnen. Zwischenzeitlich stieg dadurch der Durchschnittspreis der verkauften Produkte in nur einem Quartal um ganze 23%. Dem Mutterkonzern Inditex bescherte das zuletzt eine Steigerung des Jahresgewinns um mehr als 27%.
70% aller Mode-Führungskräfte planen für 2024 eine Preiserhöhung – so viele wie schon sehr lange nicht mehr.
Aber haben die Menschen durch die Inflation nicht sowieso schon weniger Geld in der Tasche und sparen bei Bekleidung? Dem wäre eine aktuelle Studie entgegenzuhalten, die belegt, dass die Menschen angesichts der Inflation lieber bei allem möglichen anderen sparen – nämlich bei Freizeitaktivitäten wie Kino- und Restaurantbesuchen, Urlaub und Reisen, Wellnessanwendungen, Gas, Elektrizität, Wasser und so weiter – als auf ihre geliebten Modekäufe zu verzichten.
Aber was, wenn die Konkurrenz ihre Eckpreislagen hält und wir dann nicht mehr wettbewerbsfähig sind? Dem wäre entgegenzuhalten, dass fast 70% aller Mode-Führungskräfte für 2024 eine Preiserhöhung vorgesehen haben – so viele wie schon sehr lange nicht mehr.
Diese historisch günstige Konstellation sollten wir nutzen, um zu tun, was wir schon längst hätten tun sollen. Jahrzehntelang haben wir bei unseren Produkten die Qualität geopfert, um weiterhin die Eckpreislagen anbieten zu können, die Vertrieb und Händler von uns erwarten. Jetzt ist der Moment gekommen, die Eckpreislagen zu opfern, um bei unseren Produkten die Qualität anbieten zu können, die unsere KundInnen und wir selbst von uns erwarten.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com