In den letzten Monaten mussten zahllose Modehändler Insolvenz anmelden. Und jedes Mal, wenn wieder ein prominenter Fall bekannt wird, glauben alle sofort, zu wissen, was das betroffene Unternehmen falsch gemacht hat. Sicher, im Handel werden Fehler gemacht. Das ist heute nicht anders als früher. Der Unterschied zwischen heute und früher ist aber, dass die Händler früherer Generationen sich Fehler erlauben konnten. Sie hatten trotzdem ihr Auskommen. Im Gegensatz dazu sind heute die meisten Modehandelsunternehmen so auf Kante genäht, dass die kleinste Soll-Ist-Abweichung sie in Schieflage bringen kann. Das bestätigen die alarmierenden 2023er-Zahlen des BTE: Die Hälfte aller Modehändler ist defizitär. Ein Viertel ist als prekär zu bezeichnen. Nur noch eine verschwindende Minderheit von 16 Prozent ist wirklich profitabel.
Matches, Farfetch, Galeria Karstadt Kaufhof, Peter Hahn, Görtz, Wöhrl, Hallhuber, P&C Düsseldorf, Anson‘s, SportScheck, Wormland, Sør, KaDeWe Group, Aachener, Sinn, Galeries Lafayette Berlin… Wir müssen aufhören, uns einzureden, dass das unzusammenhängende Einzelfälle sind. Denn erst, wenn wir uns eingestehen, dass es im unabhängigen Modehandel ein tieferliegendes strukturelles Problem gibt, können wir uns daranmachen, dieses Problem zu lösen.
Um zu verstehen, was sich verändert hat, muss man sich in Erinnerung rufen, wie es früher war: In Prä-Onlineshopping-Zeiten bevorzugte man für einen bestimmten Bedarf meist einen bestimmten Händler. Und dafür hatte man Gründe: Kosmetik kaufte man vielleicht in der Drogerie, die auf dem Heimweg von der Arbeit lag. Getränkekästen ließ man sich von dem Getränkemarkt bringen, der schneller lieferte als seine Konkurrenten. Suchte man Schuhe, ging man in das Schuhgeschäft mit der größten Auswahl. Seine Autos bestellte man bei dem Autohändler, dem man am meisten vertraute. Und so weiter.
Alle Onlineshops sehen mehr oder weniger gleich aus. Alle funktionieren gleich. Alle arbeiten mit denselben vier Zustellern, die alle in zwei bis fünf Werktagen liefern. Wenn wir ehrlich sind, ist es uns komplett egal, ob Kickz oder Footlocker uns unsere neuen Nike-Sneaker liefert.
Wenn man die Gründe, aus denen man früher bestimmte Händler anderen vorgezogen hatte, in Gedanken durchgeht, stellt man fest, dass sie uns abhandengekommen sind. In der Sphäre des E‑Commerce gibt es keine Gründe mehr, einen Händler zu präferieren. Onlineshop A ist einem nicht näher als Onlineshop B – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Alle Onlineshops sehen mehr oder weniger gleich aus. Alle funktionieren gleich. Alle arbeiten mit denselben vier Zustellern, die alle in zwei bis fünf Werktagen liefern. Wenn wir ehrlich sind, ist es uns komplett egal, ob Kickz oder Footlocker uns unsere neuen Nike-Sneaker liefert. Wir leben in einer Welt, in der uns die gleichen Produkte nicht nur von einem, sondern von vielen Anbietern angeboten werden. Und weil man keine anderen Gründe mehr findet, die einem helfen, sich für einen Anbieter zu entscheiden, lässt man einfach den Preis entscheiden. Man vergleicht den Preis der verschiedenen Anbieter und bestellt einfach dort, wo er am niedrigsten ist.
„Abwesenheit räumlicher, zeitlicher und persönlicher Präferenzen“, „Gleichartigkeit der Güter“ und „vollständige Marktübersicht“ – wenn all das zusammenkommt, spricht man in der Wirtschaftswissenschaft von „vollkommener Konkurrenz“. In der Praxis hatte man eine solche Konstellation bislang für unmöglich gehalten. In der Theorie hat man sie aber längst durchgespielt. Das Ergebnis ist ebenso klar wie niederschmetternd: Vollkommene Konkurrenz führt in ihrer Konsequenz dazu, dass kein Anbieter mehr Geld verdient.
Das liegt daran, dass den verschiedenen Anbietern nichts anderes übrigbleibt, als sich so lange gegenseitig im Preis zu unterbieten, bis sie nicht mehr weiter runtergehen können. Dieser Punkt ist erreicht, wenn sich der Preis, zu dem die Produkte verkauft werden, den Kosten für ihre Beschaffung nähert. Übertragen auf den Einzelhandel heißt das, dass die Händler ihre Ware am Ende mehr oder weniger zum EK verkaufen.
Noch sind wir nicht dort angekommen. Doch je mehr wir bei Händlern die Voraussetzungen vollkommener Konkurrenz erfüllt sehen, desto mehr sehen wir bei ihnen auch die Konsequenzen: Am Anfang der Saison wird die Ware zwar noch so wie früher kalkuliert. Doch weil es im Netz selbstverständlich immer einen gibt, der billiger ist, hat das Angebot, das sie damit machen, bei ihren Kund:innen von Saison zu Saison weniger Zugkraft. Zum regulären Preis fließt ihre Ware nicht mehr schnell genug ab, um die fällig werdenden Rechnungen zu begleichen. Also erfinden sie einen Mid-Season-Sale, und reduzieren vor dem eigentlichen Sale schon einmal Einzelteile, bevor sie dann (jede Saison ein bisschen früher) zur eigentlichen Reduzierung von bis zu 50% übergehen und im Final Sale froh sind, wenn die Teile, die sie verkaufen, überhaupt noch einen positiven Deckungsbeitrag haben.
Einzelhändler – egal ob stationär oder online – geraten durch das schleichende Entstehen vollkommener Konkurrenz schleichend in ein Dilemma: Wenn sie ihre Ware teurer anbieten als der niedrigste Preis im Netz, verkaufen sie nicht genug. Wenn sie ihre Ware billiger anbieten als der niedrigste Preis im Netz, verdienen sie nicht genug.
Deshalb können und werden am Ende nur diejenigen unabhängigen Händler überleben, deren Geschäft sich einer vollkommenen Konkurrenz entzieht, weil es die Voraussetzungen dafür nicht oder nur teilweise erfüllt.
Wenn man schon auf den ersten Klick sieht, dass die Marke oder das Produkt von zahllosen Händlern zu den unterschiedlichsten Preisen angeboten werden, sollte man als Händler die Finger davon lassen.
Voraussetzung Nr. 1: „Vollständige Marktübersicht“: Die Entwicklung zu einer immer größeren Transparenz des Marktes lässt sich nicht zurückdrehen. Im Gegenteil: Durch Künstliche Intelligenz und Bilderkennung werden die vorhandenen Preissuchmaschinen in naher Zukunft zur Perfektion gebracht werden. So wird man innerhalb von Sekunden sämtliche Angebote vergleichen und den weltweit günstigsten Preis finden können.
Voraussetzung Nr. 2 : „Gleichartigkeit der Güter“ Gerade weil Preise immer leichter zu vergleichen sind, ist es umso wichtiger, dass die Produkte und Services, die man im Angebot hat, nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Viele Modehändler setzen aber immer noch alles daran, ihrem Nachbarn die bekanntesten Marken und die beliebtesten Produkte abzujagen und wundern sich dann darüber, dass so starke Marken und so starke Produkte ihnen so schwache Ergebnisse liefern.
Das zeigt, dass diese Händler immer noch nicht begriffen haben, dass sie sich schon längst nicht mehr nur im Wettbewerb mit ihrem Nachbarn befinden, sondern mit dem gesamten Angebot im World Wide Web. Dadurch sind Sortimente, die früher richtig waren, jetzt falsch. Genau die Art von Produkten und Marken, die – in einem Umfeld unvollkommener Konkurrenz – Generationen von unabhängigen Händlern reich gemacht hat, macht sie jetzt – in einem Umfeld annähernd vollkommener Konkurrenz – arm. Nur weil zum Beispiel Nike die erfolgreichste Sportmarke der Welt ist und der Air Force 1 ihr bestverkaufter Sneaker, heißt das noch lange nicht, dass man als unabhängiger Händler damit Geld verdienen kann.
Unabhängige Einzelhändler – egal ob stationär oder online – müssen sich, bevor sie eine Marke oder ein Produkt in ihr Sortiment aufnehmen, noch viel mehr als bisher damit auseinandersetzen, wo und zu welchen Preisen diese Marke und dieses Produkt im Netz angeboten werden. Egal wie bekannt die Marke, egal wie beliebt das Produkt – wenn man schon auf den ersten Klick sieht, dass die Marke oder das Produkt von zahllosen Händlern zu den unterschiedlichsten Preisen angeboten werden, sollte man als Händler die Finger davon lassen. Unabhängige Einzelhändler brauchen mehr denn je rare, exklusive, im besten Fall einzigartige Sortimente.
Voraussetzung Nr. 3: „Abwesenheit räumlicher Präferenzen“: In Prä-E-Onlineshopping-Zeiten ging es im Einzelhandel um Lage, Lage und Lage. Das heißt: Damals waren die räumlichen Präferenzen der Kund:innen die mit Abstand wichtigsten. Einzelhändler konnten sich darauf verlassen – und auch ein Stück weit darauf ausruhen –, dass die Menschen räumliche Distanzen scheuen und beim jeweils nächst- beziehungsweise zentralgelegenen Händler kaufen. Doch seit sich Bettina M. aus W. sogar ein einzelnes Haargummi von China bis in ihre Wohnung im dritten OG. links liefern lassen kann, spielen räumliche Distanzen keine Rolle mehr. Dieses Verschwinden der räumlichen Präferenzen der Kund:innen ist ja gerade das, was die Kettenreaktion ausgelöst hat, über deren Konsequenzen wir hier sprechen. Insofern versteht es sich von selbst, dass Händler nicht mehr auf die räumlichen Präferenzen der Kund:innen bauen können.
Voraussetzung Nr. 4: „Abwesenheit zeitlicher Präferenzen“: Beim Einkauf im stationären Handel kann man die Ware ja in den meisten Fällen sofort mitnehmen. Und schneller als sofort geht nun mal nicht. Insofern ist die Lieferzeit nur für den Versandhandel eine Stellschraube, an der er theoretisch noch drehen könnte. Um aber schneller zu liefern als die anderen Versender, braucht es einen eigenen Paketdienst. Und den kann sich bis auf Weiteres nur Amazon leisten. Folglich haben Einzelhändler – stationär wie online – derzeit keine Möglichkeit, bei den Kund:innen zeitliche Präferenzen für sich zu schaffen, die über die bereits gegebenen hinaus gehen.
Voraussetzung Nr. 5: „Abwesenheit persönlicher Präferenzen“: Die persönlichen Präferenzen sind – neben dem Sortiment – derzeit das Einzige, was stationären Läden und Onlineshops bleibt, um sich zu profilieren. Das heißt: Einzelhändler müssen die gesamte Customer Journey so angenehm gestalten, dass die Menschen selbst dann bei ihnen kaufen, wenn es das Produkt woanders preiswerter gibt. Das wissen die meisten, oder es schwant ihnen zumindest. Es wächst ein Bewusstsein dafür, dass man den Menschen nicht mehr nur die richtige Ware, sondern darüber hinaus auch angenehme Erlebnisse bieten muss. Tatsächlich hat sich diesbezüglich in letzter Zeit bereits einiges getan. Sowohl die Stationären als auch die Etailer haben einen Gang hochgeschaltet und das Einkaufserlebnis in ihren Shops spürbar verbessert.
Bestand haben werden nur diejenigen unabhängigen Händler, denen es gelingt, in der subjektiven Wahrnehmung ihrer Kund:innen „außer Konkurrenz“ zu stehen.
Wenn wir uns aber im Rahmen unserer DMI-Retail-Beratungen genauer ansehen, welche Maßnahmen ergriffen wurden, und wenn wir uns vor allem ansehen, welche Maßnahmen nicht ergriffen werden, dann stellen wir auch hier fest: Die Marktteilnehmer sind viel zu wenig bereit, voneinander zu lernen. Alle machen lediglich mehr von dem, was sie schon immer gemacht haben: Die Plattformen verbessern ihre Logistik, die Online-Shops verbessern ihre Programmierung, und die Läden verbessern ihre Inszenierung. Jeder strengt sich ein bisschen mehr an, aber alle bleiben in ihrem gewohnten Denken verhaftet.
Dadurch bleiben enorme Potenziale ungenutzt. Der unabhängige Einzelhandel kann es sich aber leider nicht mehr leisten, Potenziale ungenutzt zu lassen. Vielmehr muss jeder unabhängige Händler jetzt alle Register ziehen, um sich von seinen Konkurrenten abzusetzen. Denn wie oben dargestellt, kann unabhängiger Handel in vollkommener Konkurrenz nicht überleben. Bestand haben werden nur diejenigen unabhängigen Händler, denen es gelingt, in der subjektiven Wahrnehmung ihrer Kund:innen „außer Konkurrenz“ zu stehen.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com