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Den Dove-Effekt nutzen

Die Body-Positivity-Bewegung hat vor allem die Frauen im Blick. Sie dürfen immer selbstverständlicher die natürlichen Effekte von Alterung, Wohlstand und Bewegungsmangel zeigen, während bei Männern metallisch glänzende Haut und mindestens ein Sixpack erwartet wird. Das Modebusiness lässt hier Potenzial liegen, meint Carl Tillessen.
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Carl Til­less­sen

Für das Cas­ting von Models gibt es zwei Prin­zi­pi­en: Num­mer 1: Die Models soll­ten aus­se­hen wie die typi­schen Kund*innen. Num­mer 2: Models soll­ten nicht durch­schnitt­lich aus­se­hen. Die bei­den Prin­zi­pi­en ste­hen im direk­ten Wider­spruch zuein­an­der, und doch ist jedes für sich sehr gut nach­voll­zieh­bar.

In der Mode hat­te man von jeher aus­schließ­lich auf Prin­zip Num­mer 2 gesetzt. Denn es schien selbst­ver­ständ­lich, dass eine Moden­schau mit durch­schnitt­lich aus­se­hen­den Models für das Publi­kum unge­fähr so attrak­tiv wäre wie eine Sport­schau mit durch­schnitt­lich begab­ten Sportler*innen. Also waren die Models auf den Mode­bil­dern und Lauf­ste­gen immer grund­sätz­lich jün­ger und schlan­ker als die poten­ti­el­len Kund*innen, ihre Lip­pen waren vol­ler, die Nasen klei­ner und die Zäh­ne wei­ßer. Kurz gesagt: Das Cas­ting folg­te dem gän­gi­gen Schön­heits­ide­al.

Doch mit dem Fort­schrei­ten der Glo­ba­li­sie­rung beka­men Mode­bil­der – wie vie­les ande­re auch – eine glo­ba­le Reich­wei­te. Und mit die­ser glo­ba­len Reich­wei­te wuchs ihnen die Macht zu, dem gän­gi­gen Schön­heits­ide­al nicht nur zu fol­gen, son­dern es mit­zu­ge­stal­ten. Eini­ge Mode­fir­men haben die­se Macht aus­ge­kos­tet. Denn die Macht, sol­che Schön­heits­stan­dards eta­blie­ren zu kön­nen, war für sie der Beleg für die Strahl­kraft ihrer Mar­ke. Aber­crom­bie & Fitch zum Bei­spiel ging so weit, sei­ne nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen davon, wie ein Mensch aus­zu­se­hen habe, in einem detail­lier­ten, schrift­li­chen Regel­werk fest­zu­hal­ten. Die dar­in ent­hal­te­nen kör­per­li­chen Kri­te­ri­en hat­ten nicht nur die Models, son­dern auch sämt­li­che Verkaufsmitarbeiter*innen zu erfül­len. Erfüll­te jemand bei den wöchent­li­chen Über­prü­fun­gen auch nur eines der Kri­te­ri­en nicht mehr, so hat­te das die frist­lo­se Kün­di­gung zur Fol­ge. Auf ähn­li­che Wei­se hat sich auch Victoria’s Secret berauscht an sei­ner Macht, dar­über zu rich­ten, wer schlank und makel­los genug war, um als „Angel“ in die „Victoria’s Secret Fami­ly“ auf­ge­nom­men zu wer­den, und wer nicht.

Mit der Macht, Schönheitsstandards zu definieren, kommt auch die Verantwortung für die Befindlichkeit all derer, die diese Standards nicht erfüllen.

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“Store Models” bei Aber­crom­bie & Fitch

Aber mit Macht kommt bekannt­lich auch Ver­ant­wor­tung. In die­sem Fall kam mit der Macht, Schön­heits­stan­dards zu defi­nie­ren, auch die Ver­ant­wor­tung für die Befind­lich­keit all derer, die die­se Stan­dards nicht erfül­len. Eine Ver­ant­wor­tung, mit der man sich gelin­de gesagt oft schwer tat. „Es war eine Art Sport unter den Abtei­lungs­lei­tern und Ange­stell­ten, sich über über­ge­wich­ti­ge und adi­pö­se Kun­den lus­tig zu machen, die rein­ka­men und nach Klei­dung für sich such­ten“, berich­tet eine Abercrombie-&-Fitch-Mitarbeiterin, „denn wir führ­ten in den meis­ten Tei­len grund­sätz­lich nur bis Grö­ße 42 und wur­den dazu ange­hal­ten, uns nicht dafür zu ent­schul­di­gen.“

Durch sol­ches, nicht sel­ten sys­te­ma­ti­sches Body­s­ha­ming haben Mode­un­ter­neh­men dazu bei­getra­gen, dass sich Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xe, Schön­heits­ope­ra­tio­nen, Selbst­zwei­fel und Ess­stö­run­gen epi­de­misch aus­ge­brei­tet haben. Sie sind nicht nur mit dafür ver­ant­wort­lich, sie wer­den auch immer öfter öffent­lich dafür ver­ant­wort­lich gemacht. Die Abstür­ze von Victoria’s Secret und Aber­crom­bie & Fitch sind Bei­spie­le dafür, welch rui­nö­se Fol­gen die damit ein­her­ge­hen­de Äch­tung für Unter­neh­men haben kann.

Kein Wun­der also, dass es vie­len Unter­neh­men der­zeit oppor­tun erscheint, Cas­ting-Prin­zip Num­mer 2 bis auf Wei­te­res auf Eis zu legen und sich auf Prin­zip Num­mer 1 zu besin­nen. So lau­fen inzwi­schen auf fast allen Women’s‑Wear-Laufstegen immer auch ein paar Cur­vy-Models wie Ash­ley Gra­ham oder Palo­ma Elses­ser und ein paar Ver­tre­te­rin­nen älte­rer Model­ge­ne­ra­tio­nen wie Nao­mi Camp­bell oder Amber Valet­ta mit. Bei Nike gibt es seit 2019 weib­li­che Schau­fens­ter­pup­pen auch in Kon­fek­ti­ons­grö­ße 46. Und im Online­shop von Khloé Kar­da­shi­ans Damen­li­nie Good Ame­ri­can kann man sich die ange­bo­te­ne Klei­dung per Klick auf „sel­ect model size“ an ganz unter­schied­li­chen Kör­per­ty­pen anse­hen.

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Web­shop von Myer

Auch der aus­tra­li­sche Ver­sand­händ­ler Myer hat­te beim Cas­ting der Models für sein aktu­el­les Damen­wä­sche-Sor­ti­ment auf Diver­si­tät geach­tet und inso­fern eigent­lich alles rich­tig gemacht. Doch dann beging er den Feh­ler, die Frau­en­wä­sche-Bil­der in sei­nem Online­shop direkt über den Männer­wä­sche-Bil­dern zu ver­öf­fent­li­chen. Ein Screen­shot davon ging viral und brach­te Myer viel Ärger ein. Denn in der direk­ten Gegen­über­stel­lung fiel plötz­lich auf, dass man die Damen­wä­sche an Frau­en unter­schied­lichs­ten Gewichts und ver­schie­dens­ten Alters foto­gra­fiert hat­te, die Männer­wä­sche jedoch aus­schließ­lich an mus­kel­be­pack­ten, jun­gen Män­nern mit Wasch­brett­bauch foto­gra­fiert wor­den war.

Dass das bis dahin nie­mand auf­ge­fal­len war, dass Nike es nicht für nötig befun­den hat­te, gleich­zei­tig mit den weib­li­chen Schau­fens­ter­pup­pen in Grö­ße 46 auch männ­li­che Schau­fens­ter­pup­pen in Grö­ße 56 an den Start zu brin­gen, dass in der letz­ten Moden­schau­en­run­de bei fast allen Frau­en­schau­en, aber bei nur sie­ben von ins­ge­samt 77 Män­ner­schau­en Plus-Size-Models mit­ge­lau­fen sind, zeugt davon, dass es bei der For­de­rung nach mehr Body-Inclu­si­vi­ty/-Diver­si­ty/-Posi­ti­vi­ty bei Frau­en bis­her nicht um Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit ging, son­dern zunächst ein­mal um eine aus­glei­chen­de Gerech­tig­keit – aus­glei­chend dafür, dass unse­re Gesell­schaft Frau­en in Bezug auf ihr Äuße­res und ihren Kör­per so lan­ge so enorm unter Druck gesetzt hat, wäh­rend Män­ner sich dies­be­züg­lich ganz selbst­ver­ständ­lich gehen las­sen durf­ten. Ent­spre­chend dür­fen sich jetzt bei Frau­en immer selbst­ver­ständ­li­cher die unaus­weich­li­chen Effek­te von Alte­rung und Zucker­in­dus­trie zei­gen, wäh­rend bei Män­nern metal­lisch glän­zen­de Haut und min­des­tens ein Six­pack erwar­tet wird.

Es ist keineswegs kommerzieller Selbstmord, wenn man Frauen castet, die wie die typischen Kundinnen aussehen, sondern für den Verkauf sogar äußerst förderlich.

Dass beim Frau­en- und Män­ner­mo­del-Cas­ting zuneh­mend mit zwei­er­lei (Body-)Maß gemes­sen wird, ist jedoch nicht nur in mora­li­scher Hin­sicht schwer zu recht­fer­ti­gen. Es ist auch in kauf­män­ni­scher Hin­sicht Irr­sinn, wie DMI-Unter­su­chun­gen zei­gen. Vie­le Frau­en­mar­ken, die der For­de­rung nach mehr Diver­si­ty zuächst eher wider­wil­lig nach­ge­kom­men sind, stel­len näm­lich jetzt zu ihrer eige­nen Über­ra­schung fest, dass es kei­nes­wegs kom­mer­zi­el­ler Selbst­mord ist, wenn man Frau­en cas­tet, die wie die typi­schen Kun­din­nen aus­se­hen, son­dern für den Ver­kauf sogar äußerst för­der­lich.

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Kam­pa­gne von DG Casa

Die­se Erkennt­nis, zu der vie­le Mar­ken jetzt erst gelan­gen, hat­te die Mar­ke Dove bereits 18 Jah­re vor ihnen. Die Haut­pfle­gel­i­nie, die erst 2004 gelauncht wur­de, war näm­lich mit Hil­fe der bahn­bre­chen­den „Kei­ne Models“-Kampagnen inner­halb kür­zes­ter Zeit zur zweit­be­lieb­tes­ten Haut­creme der Deut­schen gewor­den (nach Nivea). Ech­te Frau­en – von denen z.B. in Deutsch­land gut die Hälf­te über­ge­wich­tig sind und die durch­schnitt­lich die Mit­te ihrer Vier­zi­ger bereits über­schrit­ten haben – zei­gen sich eben erkennt­lich, wenn ihnen end­lich ein­mal jemand eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keit bie­tet. Und wenn man dar­über hin­aus noch einer der ers­ten ist, der dies tut, dann wer­den die­se Frau­en einem das nie ver­ges­sen und einem ein Leben lang ver­bun­den blei­ben.

Dass das bei Män­nern nicht anders ist, oder viel­mehr wäre, lässt der durch­schla­gen­de Erfolg der Her­ren­kol­lek­ti­on von Rihan­nas Wäsche­li­nie Sava­ge x Fen­ty erah­nen. Als löb­li­che Aus­nah­me war die­se anläss­lich ihrer Ein­füh­rung 2020 genau­so kon­se­quent an viel­fäl­ti­gen Kör­per­ty­pen foto­gra­fiert wor­den wie die bereits zwei Jah­re vor­her gelaunch­te Damen­kol­lek­ti­on. Das Kam­pa­gnen­mo­tiv mit dem männ­li­chen Plus Size Model Ste­ven Green bekam auf Twit­ter fast 300.000 Likes und wur­de mehr als 30.000 mal ret­weeted. Die gezeig­te Kol­lek­ti­on war inner­halb von 12 Stun­den aus­ver­kauft.

Wäh­rend in Deutsch­land bei Pro­duk­ten für Frau­en 53 Pro­zent der poten­zi­el­len Kun­din­nen über­ge­wich­tig sind, haben bei Män­ner­pro­duk­ten sogar 67 Pro­zent der poten­zi­el­len Kun­den Über­ge­wicht. Ent­spre­chend ist dort natür­lich das Poten­zi­al für einen Dove-Effekt noch viel grö­ßer. Für Mode­mar­ken ist jetzt der Moment gekom­men, die­ses Poten­zi­al für sich zu nut­zen, statt für ihre Her­ren­kol­lek­tio­nen auch wei­ter­hin stets nur den einen, immer glei­chen Män­ner­typ zu cas­ten, mit dem sich zwei Drit­tel ihrer Kun­den von vorn­her­ein schon nicht iden­ti­fi­zie­ren kön­nen.