Erinnert sich noch jemand an die Silicon-Valley-Reisen der deutschen Eckbüros im Handel, die etwa ab 2010 für einige Jahre gefühlt einen ebenso festen Platz im Kalender hatten wie die große Brandschutzübung in der Zentrale? Die Zeiten sind längst vorbei, nur die Brandschutzübung ist geblieben. Das Silicon Valley beschäftigt sich mit KI, wer Handelsinnovationen sehen will, muss längst nach Asien schauen. Aber das haben die wenigsten getan, weil alles in jeder Hinsicht weit weg schien und viele meinten zu wissen, dass die erfolgreichen Konzepte dort in unserem Kulturkreis hier sicher nicht funktionieren. Heute wissen wir vor allem eines: so weit, so falsch.
Und das wiederum wissen wir spätestens seit drei Jahren. Denn in diesen drei Jahren hat sich der medial kolportierte Umsatz von Shein nicht nur von ca. 16 auf 45 Milliarden US-Dollar (2023) verdreifacht, sondern der On-Demand Fashion Player hat auch den spanischen Branchenprimus Inditex mit rund fünf AboutYous Abstand auf den zweiten Platz verwiesen. Und das mit einer chinesischen Nutzer-Erfahrung. Dass nun westliche Kunden in den Apps von Shein und Temu an virtuellen Glücksrädern drehen, Fische angeln spielen und sich am Dopamin-Nasenring durch die ESG-entrückte Konsumarena ziehen lassen, verändert die Situation und gibt Anlass, noch einmal auf die Marktdaten zu schauen.
Denn Wachstum ist dann vielleicht doch nicht weg, sondern eben nur woanders. Und der Umsatz hinter diesem Wachstum reisst lokal größere Löcher, als man auf den ersten Blick sieht. Wer eine Kabeltasche für 5 Euro auf Temu gekauft hat, wird wahrscheinlich keine weitere von westlichen Marken kaufen, die um den Faktor drei bis zehn teurer sind. Das bedeutet, dass der Effekt auf die Kaufkraft im westlichen Markt im schlechtesten Fall um den Preisfaktor höher ist als der Umsatz der asiatischen Ab-Werk-Plattformen.
Die Vermessung des Schadens ist eine Sache, der Blick auf die Kunden eine andere. Und obwohl die Babyboomer zu den aktivsten Temu-Usern gehören, ist die Generation Z die erste, die für den Untergang des hiesigen Handelsabendlandes verantwortlich gemacht wird. Dabei lehrt die allgemeine Lebenserfahrung, dass Vorwürfe und Appelle grundsätzlich selten Wirkung zeigen. Statt Belehrungen braucht es bessere Alternativen. Bessere Alternativen für den Umsatz von morgen heißt aber auch, für die Generation Z relevant und sichtbar zu sein. Denn dies ist die nachrückende Umsatzkohorte für den Handel, die derzeit im Wesentlichen mit Boomer- und GenX-Konzepten bedient wird.
Dass Facebook, Insta oder Pinterest an der Integration von E‑Commerce in ihre Plattformen gescheitert sind, sollte die Handelsmanager nicht beruhigen.
Es ist bekannt, dass die GenZ besonders viel Zeit in sozialen Netzwerken auf dem Smartphone verbringt. Bewegtbild, Kurzform-Videos und Streaming auf Plattformen wie Instagram, YouTube, aber vor allem TikTok sind die unterhaltsamen und kurzweiligen Gewinner um das täglich hart umkämpfte Wachzeitbudget. Westliche Shopping-Apps mit dem durchschnittlichen Unterhaltungsfaktor eines Literaturverzeichnisses gehören übrigens trotz weiter steigender Smartphone-Nutzung zu den klaren Verlierern des letzten Jahres, wie die umfangreichen Auswertungen von data.ai zeigen.
Dass Facebook, Insta oder Pinterest allesamt an der Integration von E‑Commerce in ihre Plattformen gescheitert sind, sollte die Handelsmanager nicht beruhigen. Nach Shein und Temu droht nun eine weitere Störung unseres Burgfriedens, die aktuell vielleicht noch unterschätzt wird. Denn mit TikTok hat ausgerechnet einer der aktuell größten GenZ-Magneten eine Handelsfunktionalität namens ‘TikTok Shop’ integriert und ermöglicht die medienbruchfreie Kombination von Content und Commerce in Formaten, die den Nutzer tatsächlich unterhalten.
Dabei scheint TikTok die Fehler seiner Plattform-Kollegen aus dem Silicon Valley vermieden zu haben. Im Testmarkt USA strebt TikTok Shop in diesem Jahr mit rund 17 Milliarden Dollar Umsatz eine Verzehnfachung gegenüber dem Vorjahr an. Nachahmung nicht ausgeschlossen. Dass in China allein das Segment des Live-Shoppings größer sein dürfte als der komplette deutsche Einzelhandel, zeigt, wie groß der Vorsprung ist. Ob die Pläne von TikTok für den Westen aufgehen, wird sich zeigen. Zuversichtlich scheint man aber zu sein und expandiert weiter nach Europa. In Deutschland soll TikTok Shop im Sommer an den Start gehen, und in München wird bereits fleißig für das lokale Team rekrutiert.
Wer jetzt mit leichtem Hochmut meint, die vielen eigenen, teuer erkauften Follower seien ein Schutzwall gegen den Schwarm der Content Creators, der sei gewarnt. Anders als soziale Netzwerke basiert TikTok nicht auf dem ‘Social Graph’, also den sozialen Beziehungen zwischen den Nutzern. TikTok basiert auf dem ‘Interest Graph’, also den inhaltlichen Interessen. Das bedeutet, dass die Relevanz der Inhalte über die Reichweite entscheidet und nicht die Anzahl der Follower oder die Bekanntheit der Marke. Jeder Inhalt hat prinzipiell die gleiche Chance und damit auch jedes noch so unbekannte Produkt oder jeder noch so unbekannte Creator. Die ersten zwei Sekunden entscheiden, ob man weggewischt wird oder ein Stück vom Aufmerksamkeitskuchen abbekommt. Wer diese Spielregeln beherrscht, kann etablierten Herstellern mit professionellen Agenturproduktionen buchstäblich mit dem Handy am Küchentisch die Butter vom Brot nehmen.
Bei TikTok erlebt Teleshopping seine digitale Metamorphose, es ist ein neues QVC auf Steroiden.
Bei TikTok erlebt Teleshopping seine digitale Metamorphose, es ist ein neues QVC auf Steroiden. Im Gegensatz zu Live-Verkaufssendungen in großen traditionellen Online-Shops, die schnell wie Junggesellenabschiede von Mittvierzigern im falschen Stadtteil wirken, verursacht die Integration von authentischem Bewegtbild auf einer Bewegtbildplattform anscheinend kaum Störgefühle bei den Nutzern. Im Gegenteil, es schafft erfolgreich Kaufimpulse. Gute Verkäufer brauchen dafür keine bekannten Marken. Verkäufer und Produkte werden zu Helden. Über die Sichtbarkeit entscheidet der Algorithmus, Traffic ist mehr als genug vorhanden. Dass TikTok bei jüngeren Zielgruppen Google als Suchmaschine für Produkte teilweise schon abgelöst hat, zeigt das tektonische Potenzial des Ganzen.
Die großen westlichen Händler und Hersteller werden daraus vorerst wahrscheinlich nicht viel machen. Mit ihren Transformationen zu Plattformen der vorletzten Generation oder zu Omnichannel-Irgendwas sowie gleichzeitigen Rosskuren für mehr Effizienz sind sie derzeit vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und genau in diesem Vakuum liegt die Chance für kleinere Händler und Hersteller. Shein und Temu zeigen mit teilweise unlauter anmutenden Methoden die vorhandene Wechselbereitschaft von Kunden bei rationalen Vorteilen sowie die irrationalen Effekte durch die Erweiterung von Handel um Entertainment. TikTok Shop zeigt, wie neue Formate wie Kurzform-Video oder Streaming auch reine Unterhaltung um Kommerz erweitern können. Beides kann man belächeln, ablehnen oder kritisieren. Oder man kann etwas daraus machen. Es braucht bessere Alternativen und die eigene Weiterentwicklung zum Handel von morgen. Die Kunden von morgen wird es freuen.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com