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Und jetzt auch noch TikTok

TikTok Shop zeigt, wie neue Formate wie Kurzform-Videos oder Streaming auch reine Unterhaltung um Kommerz erweitern können. Beides kann man belächeln, ablehnen oder kritisieren. Oder man kann etwas daraus machen, meint Stefan Wenzel.
Stefan wenzel
Ste­fan Wen­zel

Erin­nert sich noch jemand an die Sili­con-Val­ley-Rei­sen der deut­schen Eck­bü­ros im Han­del, die etwa ab 2010 für eini­ge Jah­re gefühlt einen eben­so fes­ten Platz im Kalen­der hat­ten wie die gro­ße Brand­schutz­übung in der Zen­tra­le? Die Zei­ten sind längst vor­bei, nur die Brand­schutz­übung ist geblie­ben. Das Sili­con Val­ley beschäf­tigt sich mit KI, wer Han­dels­in­no­va­tio­nen sehen will, muss längst nach Asi­en schau­en. Aber das haben die wenigs­ten getan, weil alles in jeder Hin­sicht weit weg schien und vie­le mein­ten zu wis­sen, dass die erfolg­rei­chen Kon­zep­te dort in unse­rem Kul­tur­kreis hier sicher nicht funk­tio­nie­ren. Heu­te wis­sen wir vor allem eines: so weit, so falsch.

Und das wie­der­um wis­sen wir spä­tes­tens seit drei Jah­ren. Denn in die­sen drei Jah­ren hat sich der medi­al kol­por­tier­te Umsatz von Shein nicht nur von ca. 16 auf 45 Mil­li­ar­den US-Dol­lar (2023) ver­drei­facht, son­dern der On-Demand Fashion Play­er hat auch den spa­ni­schen Bran­chen­pri­mus Indi­tex mit rund fünf Abou­tY­ous Abstand auf den zwei­ten Platz ver­wie­sen. Und das mit einer chi­ne­si­schen Nut­zer-Erfah­rung. Dass nun west­li­che Kun­den in den Apps von Shein und Temu an vir­tu­el­len Glücks­rä­dern dre­hen, Fische angeln spie­len und sich am Dopa­min-Nasen­ring durch die ESG-ent­rück­te Kon­suma­re­na zie­hen las­sen, ver­än­dert die Situa­ti­on und gibt Anlass, noch ein­mal auf die Markt­da­ten zu schau­en.

Denn Wachs­tum ist dann viel­leicht doch nicht weg, son­dern eben nur woan­ders. Und der Umsatz hin­ter die­sem Wachs­tum reisst lokal grö­ße­re Löcher, als man auf den ers­ten Blick sieht. Wer eine Kabel­ta­sche für 5 Euro auf Temu gekauft hat, wird wahr­schein­lich kei­ne wei­te­re von west­li­chen Mar­ken kau­fen, die um den Fak­tor drei bis zehn teu­rer sind. Das bedeu­tet, dass der Effekt auf die Kauf­kraft im west­li­chen Markt im schlech­tes­ten Fall um den Preis­fak­tor höher ist als der Umsatz der asia­ti­schen Ab-Werk-Platt­for­men.

Die Ver­mes­sung des Scha­dens ist eine Sache, der Blick auf die Kun­den eine ande­re. Und obwohl die Baby­boo­mer zu den aktivs­ten Temu-Usern gehö­ren, ist die Gene­ra­ti­on Z die ers­te, die für den Unter­gang des hie­si­gen Han­dels­abend­lan­des ver­ant­wort­lich gemacht wird. Dabei lehrt die all­ge­mei­ne Lebens­er­fah­rung, dass Vor­wür­fe und Appel­le grund­sätz­lich sel­ten Wir­kung zei­gen. Statt Beleh­run­gen braucht es bes­se­re Alter­na­ti­ven. Bes­se­re Alter­na­ti­ven für den Umsatz von mor­gen heißt aber auch, für die Gene­ra­ti­on Z rele­vant und sicht­bar zu sein. Denn dies ist die nach­rü­cken­de Umsatz­ko­hor­te für den Han­del, die der­zeit im Wesent­li­chen mit Boo­mer- und GenX-Kon­zep­ten bedient wird.

Dass Facebook, Insta oder Pinterest an der Integration von E‑Commerce in ihre Plattformen gescheitert sind, sollte die Handelsmanager nicht beruhigen.

Es ist bekannt, dass die GenZ beson­ders viel Zeit in sozia­len Netz­wer­ken auf dem Smart­phone ver­bringt. Bewegt­bild, Kurz­form-Vide­os und Strea­ming auf Platt­for­men wie Insta­gram, You­Tube, aber vor allem Tik­Tok sind die unter­halt­sa­men und kurz­wei­li­gen Gewin­ner um das täg­lich hart umkämpf­te Wach­zeit­bud­get. West­li­che Shop­ping-Apps mit dem durch­schnitt­li­chen Unter­hal­tungs­fak­tor eines Lite­ra­tur­ver­zeich­nis­ses gehö­ren übri­gens trotz wei­ter stei­gen­der Smart­phone-Nut­zung zu den kla­ren Ver­lie­rern des letz­ten Jah­res, wie die umfang­rei­chen Aus­wer­tun­gen von data.ai zei­gen.

Dass Face­book, Ins­ta oder Pin­te­rest alle­samt an der Inte­gra­ti­on von E‑Commerce in ihre Platt­for­men geschei­tert sind, soll­te die Han­dels­ma­na­ger nicht beru­hi­gen. Nach Shein und Temu droht nun eine wei­te­re Stö­rung unse­res Burg­frie­dens, die aktu­ell viel­leicht noch unter­schätzt wird. Denn mit Tik­Tok hat aus­ge­rech­net einer der aktu­ell größ­ten GenZ-Magne­ten eine Han­dels­funk­tio­na­li­tät namens ‘Tik­Tok Shop’ inte­griert und ermög­licht die medi­en­bruch­freie Kom­bi­na­ti­on von Con­tent und Com­mer­ce in For­ma­ten, die den Nut­zer tat­säch­lich unter­hal­ten.

Dabei scheint Tik­Tok die Feh­ler sei­ner Platt­form-Kol­le­gen aus dem Sili­con Val­ley ver­mie­den zu haben. Im Test­markt USA strebt Tik­Tok Shop in die­sem Jahr mit rund 17 Mil­li­ar­den Dol­lar Umsatz eine Ver­zehn­fa­chung gegen­über dem Vor­jahr an. Nach­ah­mung nicht aus­ge­schlos­sen. Dass in Chi­na allein das Seg­ment des Live-Shop­pings grö­ßer sein dürf­te als der kom­plet­te deut­sche Ein­zel­han­del, zeigt, wie groß der Vor­sprung ist. Ob die Plä­ne von Tik­Tok für den Wes­ten auf­ge­hen, wird sich zei­gen. Zuver­sicht­lich scheint man aber zu sein und expan­diert wei­ter nach Euro­pa. In Deutsch­land soll Tik­Tok Shop im Som­mer an den Start gehen, und in Mün­chen wird bereits flei­ßig für das loka­le Team rekru­tiert.

Wer jetzt mit leich­tem Hoch­mut meint, die vie­len eige­nen, teu­er erkauf­ten Fol­lower sei­en ein Schutz­wall gegen den Schwarm der Con­tent Crea­tors, der sei gewarnt. Anders als sozia­le Netz­wer­ke basiert Tik­Tok nicht auf dem ‘Social Graph’, also den sozia­len Bezie­hun­gen zwi­schen den Nut­zern. Tik­Tok basiert auf dem ‘Inte­rest Graph’, also den inhalt­li­chen Inter­es­sen. Das bedeu­tet, dass die Rele­vanz der Inhal­te über die Reich­wei­te ent­schei­det und nicht die Anzahl der Fol­lower oder die Bekannt­heit der Mar­ke. Jeder Inhalt hat prin­zi­pi­ell die glei­che Chan­ce und damit auch jedes noch so unbe­kann­te Pro­dukt oder jeder noch so unbe­kann­te Crea­tor. Die ers­ten zwei Sekun­den ent­schei­den, ob man weg­ge­wischt wird oder ein Stück vom Auf­merk­sam­keits­ku­chen abbe­kommt. Wer die­se Spiel­re­geln beherrscht, kann eta­blier­ten Her­stel­lern mit pro­fes­sio­nel­len Agen­tur­pro­duk­tio­nen buch­stäb­lich mit dem Han­dy am Küchen­tisch die But­ter vom Brot neh­men.

Bei TikTok erlebt Teleshopping seine digitale Metamorphose, es ist ein neues QVC auf Steroiden.

Bei Tik­Tok erlebt Tele­shop­ping sei­ne digi­ta­le Meta­mor­pho­se, es ist ein neu­es QVC auf Ste­ro­iden. Im Gegen­satz zu Live-Ver­kaufs­sen­dun­gen in gro­ßen tra­di­tio­nel­len Online-Shops, die schnell wie Jung­ge­sel­len­ab­schie­de von Mitt­vier­zi­gern im fal­schen Stadt­teil wir­ken, ver­ur­sacht die Inte­gra­ti­on von authen­ti­schem Bewegt­bild auf einer Bewegt­bild­platt­form anschei­nend kaum Stör­ge­füh­le bei den Nut­zern. Im Gegen­teil, es schafft erfolg­reich Kauf­im­pul­se. Gute Ver­käu­fer brau­chen dafür kei­ne bekann­ten Mar­ken. Ver­käu­fer und Pro­duk­te wer­den zu Hel­den. Über die Sicht­bar­keit ent­schei­det der Algo­rith­mus, Traf­fic ist mehr als genug vor­han­den. Dass Tik­Tok bei jün­ge­ren Ziel­grup­pen Goog­le als Such­ma­schi­ne für Pro­duk­te teil­wei­se schon abge­löst hat, zeigt das tek­to­ni­sche Poten­zi­al des Gan­zen.

Die gro­ßen west­li­chen Händ­ler und Her­stel­ler wer­den dar­aus vor­erst wahr­schein­lich nicht viel machen. Mit ihren Trans­for­ma­tio­nen zu Platt­for­men der vor­letz­ten Gene­ra­ti­on oder zu Omnich­an­nel-Irgend­was sowie gleich­zei­ti­gen Ross­ku­ren für mehr Effi­zi­enz sind sie der­zeit vor allem mit sich selbst beschäf­tigt. Und genau in die­sem Vaku­um liegt die Chan­ce für klei­ne­re Händ­ler und Her­stel­ler. Shein und Temu zei­gen mit teil­wei­se unlau­ter anmu­ten­den Metho­den die vor­han­de­ne Wech­sel­be­reit­schaft von Kun­den bei ratio­na­len Vor­tei­len sowie die irra­tio­na­len Effek­te durch die Erwei­te­rung von Han­del um Enter­tain­ment. Tik­Tok Shop zeigt, wie neue For­ma­te wie Kurz­form-Video oder Strea­ming auch rei­ne Unter­hal­tung um Kom­merz erwei­tern kön­nen. Bei­des kann man belä­cheln, ableh­nen oder kri­ti­sie­ren. Oder man kann etwas dar­aus machen. Es braucht bes­se­re Alter­na­ti­ven und die eige­ne Wei­ter­ent­wick­lung zum Han­del von mor­gen. Die Kun­den von mor­gen wird es freu­en.

Ste­fan Wen­zel ist seit mehr als 20 Jah­ren im Digi­ta­len Han­del und einer der pro­fi­lier­tes­ten Köp­fe der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet unter ande­rem Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tail­or Digi­tal. Ste­fan Wen­zel unter­stützt Fir­men, Grün­der und Geschäfts­füh­rer als digi­ta­ler Bei­rat, ist regel­mä­ßi­ger Spre­cher auf Fach­kon­fe­ren­zen, Inter­­­­­­view- und Pod­­­­­­cast-Gast. www.stefanwenzel.com

Bei­trä­ge von Ste­fan Wen­zel

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