Genderless Fashion – Wahn oder Vision?

Vollständige Genderneutralität in der Mode ist eine Utopie, sagt Carl Tillessen. Das heißt nicht, dass Industrie und Handel diese Entwicklung ignorieren können.
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Carl Til­les­sen

Die Vor­aus­set­zun­gen für Uni­sex-Klei­dung waren nie güns­ti­ger, und sie wer­den auch nie wie­der güns­ti­ger sein: Ein Zeit­geist, der Geschlech­ter­iden­ti­tä­ten nicht mehr als gegen­sätz­li­che Pole, son­dern als das flie­ßen­de Spek­trum dazwi­schen ver­stan­den wis­sen will, traf auf einen kör­per­ni­vel­lie­ren­den Over­si­ze-Trend. Und bei­des zusam­men ver­band sich im Lock­down mit einem explo­die­ren­den Bedarf an beque­mer, infor­mel­ler Loun­ge­wear und Ath­lei­su­re. Da muss­te man wirk­lich nur noch eins und eins und eins zusam­men­zäh­len.

Mar­ken wie The Pan­ga­ia, Les Tien oder The Track­su­it Club erkann­ten die Steil­vor­la­ge und erober­ten mit Uni­sex-Jog­ging­an­zü­gen (in denen man und frau wirk­lich alles macht, außer Jog­ging) die Welt im Sturm. Nichts hät­te unse­rem Lebens­ge­fühl in den letz­ten drei Jah­ren bes­ser ent­spre­chen kön­nen als die­se anlass- und geschlechts­neu­tra­len Klei­dungs­stü­cke, die genau­so stu­fen- und mühe­los von männ­lich zu weib­lich hin­über­wech­seln kön­nen wie von Indoor zu Out­door, von Arbeit zu Frei­zeit. Die Wer­be­kam­pa­gnen dazu zeig­ten uns eine bes­se­re Welt mit sof­ten Men­schen in sof­ter Klei­dung in sof­ten Far­ben. Wie einst der Mao-Anzug ver­sprach uns die­se neue Uni­form aus Uni­sex-Sweat­pants und Uni­sex-Sweat­shirt eine ega­li­tä­re Gesell­schaft, in der end­lich alle gleich sind – Frau und Mann, arm und reich. Ein Uni­sex-Jog­ging­an­zug ist mehr als ein Klei­dungs­stück. Er ist geleb­te Uto­pie.

Vie­le haben sich damals auf­ge­macht, um durch den Kauf von Uni­sex-Klei­dung ihren Bei­trag zu die­ser Uto­pie zu leis­ten. Doch in den meis­ten Fäl­len platz­te der Traum von einer in Klei­dung ver­ein­ten Gesell­schaft im Moment der Anpro­be – waren den Män­nern viel­leicht die Hosen zu kurz, die Bünd­chen zu eng, so waren den Frau­en die Ärmel zu lang, die Hosen zu gera­de. Uto­pie trifft auf Rea­li­tät, Kon­zept trifft auf Kör­per. Jeder Schnitt­ma­cher weiß, dass der klei­ne Unter­schied zwi­schen Män­nern und Frau­en doch zumin­dest so groß ist, dass Schnit­te, die ver­su­chen, es bei­den recht zu machen, es am Ende meist kei­nem recht machen. Denn Frau­en sind neben vie­lem ande­ren durch­schnitt­lich 13 Zen­ti­me­ter klei­ner als Män­ner, und der Unter­schied zwi­schen Hüf­te und Tail­le ist bei ihnen zehn Zen­ti­me­ter grö­ßer. Eine Pass­form, die so gro­ße kör­per­li­che Unter­schie­de ver­leug­net, erzeugt – selbst bei so simp­len Tei­len wie Jog­ging­an­zü­gen – unver­meid­lich eine Dis­so­nanz zwi­schen Klei­dungs­stück und Kör­per. Und die ist in 90 Pro­zent der Fäl­le nicht vor­teil­haft.

Doch auch wenn die Anglei­chung von Frau­en- und Män­ner­mo­de in die­sem einen Bereich an Gren­zen stößt, so hat sie sich damit doch kei­nes­wegs erle­digt. Denn in allen ande­ren Berei­chen nähern sich Frau­en- und Män­ner­klei­dung der­zeit immer stär­ker an – Far­ben, Mus­ter, Mate­ria­li­en, Looks… Und das geht in atem­be­rau­ben­dem Tem­po. Bereits jetzt kau­fen und tra­gen Män­ner und Frau­en mit völ­li­ger Selbst­ver­ständ­lich­keit Far­ben, die sie vor ein paar Jah­ren noch nicht ein­mal in Erwä­gung gezo­gen hät­ten, weil sie ihnen zu weib­lich bzw. zu männ­lich gewe­sen wären.

Es geht nicht darum, nicht mehr als Frau beziehungsweise als Mann wahrgenommen zu werden. Es geht um die Reihenfolge. Die neue Generation will wieder zuerst und vor allem als Mensch wahrgenommen werden und erst dann als Frau oder als Mann.

Für die modisch weg­wei­sen­den jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen ist all das Teil einer grö­ße­ren Gen­der-Agen­da, die sehr kom­plex ist, bei der es aber im Kern um Fol­gen­des geht: Wir leben in einer Gesell­schaft, die so von Sexis­mus durch­drun­gen ist, dass man uns bei jedem Kon­takt mit ande­ren Men­schen immer zuerst ein­mal als Frau bezie­hungs­wei­se als Mann und erst danach als Mensch wahr­nimmt. Und unbe­streit­bar trägt unse­re Klei­dung, die seit Jahr­tau­sen­den immer dar­auf aus war, die pri­mä­ren und sekun­dä­ren Geschlechts­merk­ma­le von Frau­en und Män­nern zu akzen­tu­ie­ren, eine nicht uner­heb­li­che Mit­schuld dar­an. Nach­kom­men­de Gene­ra­tio­nen wol­len aber so nicht mehr leben. Es geht ihnen nicht dar­um, gar nicht mehr als Frau bezie­hungs­wei­se als Mann wahr­ge­nom­men zu wer­den. Es geht ihnen um die Rei­hen­fol­ge. Sie wol­len, wie­der zuerst und vor allem als Mensch wahr­ge­nom­men wer­den und erst dann als Frau oder als Mann.

Und weil die Mode, wie gesagt, ent­schei­dend dazu bei­getra­gen hat, dass das nicht mehr so ist, ist es jetzt ihre ver­damm­te Pflicht dazu bei­zu­tra­gen, dass es wie­der so wird. Des­halb sehen wir auf den Lauf­ste­gen nicht mehr nur Frau­en, son­dern auch Män­ner in Pas­tell­far­ben oder Blu­men­dru­cken, nicht mehr nur Män­ner, son­dern auch Frau­en in grau­en Anzü­gen oder der­bem Leder. Und des­halb gehen jun­ge Mäd­chen mit Kra­wat­ten und Kampf­stie­feln auf die Stra­ße und Jüng­lin­ge mit Per­len­ket­ten und Nagel­lack.

Und des­halb ist es zuneh­mend inak­zep­ta­bel, wenn begehr­li­che Snea­k­er nur in Män­ner­grö­ßen gelauncht wer­den und wenn schö­ne Taschen nur Frau­en ange­bo­ten wer­den. Mag sein, dass die Mode­bran­che über­all dort, wo es geschlechts­spe­zi­fi­scher Pass­for­men bedarf, auch wei­ter­hin an das binä­re Sys­tem von Frau­en- und Män­ner­kol­lek­tio­nen und Damen- und Her­ren­ab­tei­lun­gen geket­tet bleibt. Über­all dort hin­ge­gen, wo dies nicht der Fall ist, also zum Bei­spiel bei T‑Shirts, vor allem aber bei Acces­soires wie Schu­hen, Taschen und Schmuck, wird dies zuneh­mend als unzeit­ge­mäß emp­fun­den, wie unse­re Ana­ly­sen bei DMI bele­gen. Inso­fern ist es nicht unbe­dingt ein Wider­spruch, dass H&M und Zara ihre Uni­sex-Kap­seln „Den­im United“ und „Unge­nde­red“ wie­der ein­ge­stellt haben, wäh­rend Uni­q­lo und Zalan­do ihr Ange­bot an gen­der­less Fashion wei­ter aus­bau­en.

Auch wenn sich voll­stän­di­ge Gen­der­neu­tra­li­tät in der Mode als Uto­pie her­aus­stellt, ist sie damit kei­nes­wegs gestor­ben, son­dern lebt als sol­che wei­ter. Denn das ist ja gera­de das Wesen einer Uto­pie: Sie ist ein Ide­al, dem man nach­strebt, obwohl man sich ihm nur annä­hern kann. Sie ist ein Ziel, das zu ver­fol­gen sich lohnt, auch wenn man es nie errei­chen wird. Sie ist die Lat­te, die man sich absicht­lich ein biss­chen zu hoch legt.

Ct konsum
Carl Til­les­sens Buch “Kon­sum” hat es in die Spie­gel-Best­sel­ler-Lis­te gebracht

Carl Til­les­sen ist gemein­sam mit Gerd Mül­­­­ler-Thom­kins Geschäfts­füh­rer des Deut­schen Mode-Ins­­­ti­­­­tuts. Sein Buch “Kon­sum” geht der Fra­ge nach, wie, wo und vor allem war­um wir kau­fen. www.carltillessen.com

Bei­trä­ge von Carl Til­les­sen