Die Voraussetzungen für Unisex-Kleidung waren nie günstiger, und sie werden auch nie wieder günstiger sein: Ein Zeitgeist, der Geschlechteridentitäten nicht mehr als gegensätzliche Pole, sondern als das fließende Spektrum dazwischen verstanden wissen will, traf auf einen körpernivellierenden Oversize-Trend. Und beides zusammen verband sich im Lockdown mit einem explodierenden Bedarf an bequemer, informeller Loungewear und Athleisure. Da musste man wirklich nur noch eins und eins und eins zusammenzählen.
Marken wie The Pangaia, Les Tien oder The Tracksuit Club erkannten die Steilvorlage und eroberten mit Unisex-Jogginganzügen (in denen man und frau wirklich alles macht, außer Jogging) die Welt im Sturm. Nichts hätte unserem Lebensgefühl in den letzten drei Jahren besser entsprechen können als diese anlass- und geschlechtsneutralen Kleidungsstücke, die genauso stufen- und mühelos von männlich zu weiblich hinüberwechseln können wie von Indoor zu Outdoor, von Arbeit zu Freizeit. Die Werbekampagnen dazu zeigten uns eine bessere Welt mit soften Menschen in softer Kleidung in soften Farben. Wie einst der Mao-Anzug versprach uns diese neue Uniform aus Unisex-Sweatpants und Unisex-Sweatshirt eine egalitäre Gesellschaft, in der endlich alle gleich sind – Frau und Mann, arm und reich. Ein Unisex-Jogginganzug ist mehr als ein Kleidungsstück. Er ist gelebte Utopie.
Viele haben sich damals aufgemacht, um durch den Kauf von Unisex-Kleidung ihren Beitrag zu dieser Utopie zu leisten. Doch in den meisten Fällen platzte der Traum von einer in Kleidung vereinten Gesellschaft im Moment der Anprobe – waren den Männern vielleicht die Hosen zu kurz, die Bündchen zu eng, so waren den Frauen die Ärmel zu lang, die Hosen zu gerade. Utopie trifft auf Realität, Konzept trifft auf Körper. Jeder Schnittmacher weiß, dass der kleine Unterschied zwischen Männern und Frauen doch zumindest so groß ist, dass Schnitte, die versuchen, es beiden recht zu machen, es am Ende meist keinem recht machen. Denn Frauen sind neben vielem anderen durchschnittlich 13 Zentimeter kleiner als Männer, und der Unterschied zwischen Hüfte und Taille ist bei ihnen zehn Zentimeter größer. Eine Passform, die so große körperliche Unterschiede verleugnet, erzeugt – selbst bei so simplen Teilen wie Jogginganzügen – unvermeidlich eine Dissonanz zwischen Kleidungsstück und Körper. Und die ist in 90 Prozent der Fälle nicht vorteilhaft.
Doch auch wenn die Angleichung von Frauen- und Männermode in diesem einen Bereich an Grenzen stößt, so hat sie sich damit doch keineswegs erledigt. Denn in allen anderen Bereichen nähern sich Frauen- und Männerkleidung derzeit immer stärker an – Farben, Muster, Materialien, Looks… Und das geht in atemberaubendem Tempo. Bereits jetzt kaufen und tragen Männer und Frauen mit völliger Selbstverständlichkeit Farben, die sie vor ein paar Jahren noch nicht einmal in Erwägung gezogen hätten, weil sie ihnen zu weiblich bzw. zu männlich gewesen wären.
Es geht nicht darum, nicht mehr als Frau beziehungsweise als Mann wahrgenommen zu werden. Es geht um die Reihenfolge. Die neue Generation will wieder zuerst und vor allem als Mensch wahrgenommen werden und erst dann als Frau oder als Mann.
Für die modisch wegweisenden jüngeren Generationen ist all das Teil einer größeren Gender-Agenda, die sehr komplex ist, bei der es aber im Kern um Folgendes geht: Wir leben in einer Gesellschaft, die so von Sexismus durchdrungen ist, dass man uns bei jedem Kontakt mit anderen Menschen immer zuerst einmal als Frau beziehungsweise als Mann und erst danach als Mensch wahrnimmt. Und unbestreitbar trägt unsere Kleidung, die seit Jahrtausenden immer darauf aus war, die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale von Frauen und Männern zu akzentuieren, eine nicht unerhebliche Mitschuld daran. Nachkommende Generationen wollen aber so nicht mehr leben. Es geht ihnen nicht darum, gar nicht mehr als Frau beziehungsweise als Mann wahrgenommen zu werden. Es geht ihnen um die Reihenfolge. Sie wollen, wieder zuerst und vor allem als Mensch wahrgenommen werden und erst dann als Frau oder als Mann.
Und weil die Mode, wie gesagt, entscheidend dazu beigetragen hat, dass das nicht mehr so ist, ist es jetzt ihre verdammte Pflicht dazu beizutragen, dass es wieder so wird. Deshalb sehen wir auf den Laufstegen nicht mehr nur Frauen, sondern auch Männer in Pastellfarben oder Blumendrucken, nicht mehr nur Männer, sondern auch Frauen in grauen Anzügen oder derbem Leder. Und deshalb gehen junge Mädchen mit Krawatten und Kampfstiefeln auf die Straße und Jünglinge mit Perlenketten und Nagellack.
Und deshalb ist es zunehmend inakzeptabel, wenn begehrliche Sneaker nur in Männergrößen gelauncht werden und wenn schöne Taschen nur Frauen angeboten werden. Mag sein, dass die Modebranche überall dort, wo es geschlechtsspezifischer Passformen bedarf, auch weiterhin an das binäre System von Frauen- und Männerkollektionen und Damen- und Herrenabteilungen gekettet bleibt. Überall dort hingegen, wo dies nicht der Fall ist, also zum Beispiel bei T‑Shirts, vor allem aber bei Accessoires wie Schuhen, Taschen und Schmuck, wird dies zunehmend als unzeitgemäß empfunden, wie unsere Analysen bei DMI belegen. Insofern ist es nicht unbedingt ein Widerspruch, dass H&M und Zara ihre Unisex-Kapseln „Denim United“ und „Ungendered“ wieder eingestellt haben, während Uniqlo und Zalando ihr Angebot an genderless Fashion weiter ausbauen.
Auch wenn sich vollständige Genderneutralität in der Mode als Utopie herausstellt, ist sie damit keineswegs gestorben, sondern lebt als solche weiter. Denn das ist ja gerade das Wesen einer Utopie: Sie ist ein Ideal, dem man nachstrebt, obwohl man sich ihm nur annähern kann. Sie ist ein Ziel, das zu verfolgen sich lohnt, auch wenn man es nie erreichen wird. Sie ist die Latte, die man sich absichtlich ein bisschen zu hoch legt.
Carl Tillessen ist gemeinsam mit Gerd Müller-Thomkins Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. Sein Buch “Konsum” geht der Frage nach, wie, wo und vor allem warum wir kaufen. www.carltillessen.com