„And now you see another me, I've been reloaded, yeah
I'm fired up, don't shut me down“
ABBA
‘Tschuldigung, wenn ich kurz Ihr sehnsüchtiges Warten auf die Veröffentlichung des neuen ABBA-Albums unterbreche. Ist ja bald so weit, und vielleicht tut etwas Ablenkung bis dahin ja ganz gut. Ohnehin sind die unverwüstlichen Schweden die perfekte Überleitung zu ein paar Gedanken über die sich allmählich berappelnde Modebranche. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen beim Blick auf Videos der Pret-à-Porter-Schauen in den letzten Wochen erging, aber ich war irritiert. Statt des seit Monaten, nein, Jahren (!) beschworenen großangelegten Neuanfangs, einer Art „Total Reset“, verströmten die meisten Laufstege eher die Botschaft „same, same, but different“. Und bei manchem Defilee wäre man selbst dafür dankbar gewesen …
Das Gefühl beim Zuschauen ähnelte der Emotionen-Achterbahn, während des ersten Making-of-Clips der ABBA-Show „Voyage“. Da stehen Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid von Kopf bis Fuß verkabelt und etwas hüftsteif in einem Studio, um später, dank sündhaft teurer Hightech, als virtuelle Klone allabendlich in London über die Bühne zu springen. Im look and feel von 1979, dabei zählt das Quartett in Wahrheit bereits stattliche 296 Mittsommer.
Für die Modebranche scheint aktuell die gleiche Strategie zu gelten: Den fossilen Kern mit Bits und Bytes aufzumotzen. Hier ein Lifting, da ein Makeover, einmal das Personalkarussell gedreht. Rebranding, Upbranding, Irgendwasbranding. Und dann: Let’s party like it’s 1999. Oder 2019. Mit Kollektionen, die entweder stilistisch so mutlos wirken wie die Reförmchen der bald ehemaligen GroKo oder weniger Bodenhaftung besitzen als das Ego von Elon Musk.
Moment!, werden Sie jetzt entgegnen. Eben dieses Wechselspiel zwischen pragmatischer, verkaufbarer Anpassung und kunstvoller, visionärer Radikalität hat das Modedesign doch immer schon geprägt. Darin liegt sein Reiz. Korrekt. Nur kauft mein innerer Zyniker nach rund 25 Jahren an der Fashion-Front vielen der Macher und Marken weder das eine noch das andere ab. Statt allein von Excel-Tabellen zaghaft gebändigter Textilfantasien wird allzu offensichtlich, was wir vom „Zauberer von Oz“ kennen: Hinter dem glänzend grünen Vorhang steht ein gebückter Greis an den ewig gleichen Reglern und Schaltern. Die Magie des Neuen ist pure, ernüchternde Illusion.
Die kreative Direktion etlicher Labels scheint endgültig auf Algorithmus umgeschult zu haben. Um die Relevanz der Mode für das reale Leben von Menschen geht es jedenfalls kaum mehr. Eher um das Tätscheln der Shareholder.
Und nicht mal die nimmt man in den heiligen Hallen der Haute Couture und Ready-to-wear noch wirklich ernst. Da taugt der Gummihaufen-„Schuh“ eines italienischen Labels als Beweisstück A der Stil-Anklage, die Fülle neongreller Herrenkollektionen für den nächsten Sommer oder der seit zig Saisons tosenden Hype um ugly sneakers französischer Provenienz.
Das Phänomen bizarr entrückter Styles sprengt die Ateliergrenzen und aus dem Ringen ästhetischer Instanzen um das zeitgemäß Schön(st)e wurde ein Wettkampf um den hässlichsten Turnschuh überhaupt. Nach dem Motto „How low can you go?“. Befeuert von verklärenden Magazinfeatures zum Thema „So trägst du die neuen Dad-Sneaker“, weil sich niemand mehr ein entrüstetes „Wer soll das tragen – und warum?“ leisten kann. Die Hardcore-Fans und hibbeligen early adopters werden die klobigen, heillos überteuerten Dinger schon kaufen, und den restlichen Umsatz holt man mit Logo-Basics und Parfüms rein. Heute wie morgen.
Die kreative Direktion etlicher Labels scheint in diesem Zuge endgültig auf Algorithmus umgeschult zu haben und gibt Kunden, Followern und fashion victims anstandslos, was ihnen besonders gut gefällt. Crazy colours, wirre Kollabos und Kokolores. Das Resultat wirkt mitunter, als stünde Horrorlegende David Cronenberg am mood board. Um die Relevanz der Mode für das reale Leben, Fühlen und Denken von Menschen geht es jedenfalls kaum mehr. Eher um das Tätscheln der Shareholder.
Nun ist das mit dem andauernden Schielen in Richtung der Crowd-Intelligenz leider so eine Sache. Wer einer Zielgruppe ständig nach dem Mund redet, ihnen ein Happy Meal nach dem anderen vorsetzt, der züchtet sich eine extrem anspruchsvolle, rasch überdrüssige Schar von Konsumphlegmatikern. Sie kennen das: Je mehr Bewegtcontent wir per Streaming abrufen könnten, desto häufiger findet man „nichts wirklich Gutes“ und geht nach 23 Trailern satt ins Bett. Wer sich zig Gerichte liefern lassen könnte, wärmt sich nach der Lektüre von zig Speisekarten in der App lieber Muttis Hackbraten aus dem Tiefkühler auf. Eine perfide Kombo aus der Qual der Wahl und Überfluss, der noch hungriger macht.
Wie kann die Antwort auf einen Modemarkt, der seit über 15 Jahren mit einem Warenüberschuss von um die 30 Prozent kämpft, denn weiterhin lauten: Beim nächsten Label wird alles anders?
Erstaunlich ist für mich bei der oft beschriebenen Dynamik der Branche ihr weitverbreitetes Talent zur Autosuggestion. In der Männermode wird etwa seit Monaten verzweifelt ein Comeback des Dressing-up beschworen, der angeblich urmenschliche Drang, schick in Schale im Homeoffice oder 2G-Büro zu sitzen. Schlips, Kragen, das ganze Gedeck. Gleichzeitig fand jüngst eine Studie mit 20.000 Teilnehmern der Marke Lululemon heraus, dass 70 Prozent der Deutschen die Ära von Anzug und Krawatte im Job für beendet und 75 Prozent lässige Kleidung gar förderlich beim kollegialen Miteinander halten. Komfortable Outfits machten 65 Prozent zudem für ihre gesteigerte Performance verantwortlich.
Ja, sorry, aber auch wenn man den Auftraggeber der Umfrage qua seines sportlichen Portfolios für befangen erklärt, würde mir ziemlich die HAKA-Muffe gehen. Wie viele Sneaker und Poloshirts will man denn da zusätzlich ins Programm hieven, wie viel Elastan in die Gewebe jagen, um diese Verwerfungen zu verkraften? Angesichts übervoller Kleiderschränke, an denen selbst E‑Commerce-Giganten zunehmend verzweifeln?
Munter weiter geht es derweil übrigens, meiner Inbox zufolge, mit den Mode-Start-ups. Meist mit buzz words wie nachhaltig, zeitlos, minimalistisch oder fair versehen – und dem Satz: „Die zwei GründerInnen fanden einfach keine Hosen/Taschen/Schuhe, die ihnen gefielen. Also fassten sie den Entschluss …“ Wenn ich das noch einmal lesen muss, mache ich mich sofort selbstständig. Mit T‑Shirts, die unser Spaniel mit Fingerfarben-Pfoten betapst hat. Wie kann die Antwort auf einen inländischen Modemarkt, der seit über 15 Jahren mit einem Warenüberschuss von um die 30 Prozent kämpft, denn weiterhin lauten: Beim nächsten Label wird alles anders? Das schreit doch förmlich nach einem Zitat, das angeblich das ungekämmte Genie Albert Einstein einst prägte: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."
Hm. Vielleicht sind richtungslose Kollektionen, die eher ihre instagramability denn ein roter Faden zusammenhält – auch in der Menswear, wo Traditionsschneider auf K‑Pop machen – das letzte Aufbäumen und Festklammern am Status Quo. Ebenso der Impuls, schnellstmöglich die gewohnte Maschinerie wieder an- und auf Hochtouren laufen zu lassen. Ehe der Tipping Point für echte, tiefgreifende, systemische Veränderungen überschritten und die Rückkehr vergeblich ist. Wenn der Neuanfang in Eigenregie, wie er seit Jahren deutlich leichter und behutsamer möglich gewesen wäre, von den Zeitläuften erzwungen wird.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.