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Don’t kiss, just talk

Die Modebranche trifft sich wieder, kürzlich in Mailand, zuletzt in Paris. Man geht live und in Farbe auf Tuchfühlung. Bedeutet das ein Comeback für die Küsschen-Kultur, die vor der Coronapause wichtiger schien als Visitenkarten, Lebensläufe und Argumente? Bitte nicht, schreibt Siems Luckwaldt – und möchte Ihnen das „Sie“ anbieten.
Siemsluckwaldt
Siems Luck­waldt

„Mei­ne Lieeeee­be“, brüllt Romy Haag, spitzt den Mund und macht schon von wei­tem die­ses bedroh­li­chen „Mmmm“, mit dem sich Par­ty-Küss­chen ankün­di­gen, um dann in einem hoh­len Plopp auf jeder­manns Wan­ge zu enden. In die­sem Fall auf mei­ner. „Vor­sicht, mein Hut!“, sage ich. „Rie­sen­par­ty“, sagt Romy.

(aus „Ruf! Mich! An!“ von Else Busch­heu­er)

Die­se Roman­sze­ne ist sati­risch über­zeich­net, natür­lich. Doch ohne wah­ren Kern wär’s nicht wit­zig. Und ver­mut­lich erin­nern Sie sich an PR-Ter­mi­ne, an Mode­mes­sen, working lun­ches und Gala-Events, bei denen die ers­ten fünf, zehn Minu­ten von der ban­gen Fra­ge domi­niert wur­den: Wen habe ich noch nicht, wen müss­te ich noch …? Gemeint ist: bus­seln. In vie­ler­lei Vari­an­ten. Mit lau­tem *moi* links, rechts und Haut-Lip­pen-Kon­takt. Eher flüch­tig, Wan­ge an Wan­ge pres­send. Bloß ange­deu­tet, mit rasch über der Schul­ter des Gegen­übers dra­pier­tem Kinn. Die Not­lö­sung bei Gedrän­ge oder einer Erkäl­tung: Der über die Tie­fe des Rau­mes gehauch­te Kuss auf die eige­nen Fin­ger­spit­zen mit anschlie­ßen­dem Pus­ten. Wer schon mal eine Schnup­per­stun­de Yoga hat­te, zieht sich mit gefal­te­ten Hand­flä­chen und gemur­mel­tem „namas­té“ aus der Affä­re. Am liebs­ten aber alles schön fron­tal, mit fühl­ba­rer Benet­zung.

Als ich vor rund 25 Jah­ren mit zag­haf­ten Schrit­ten in die Life­style-Medi­en taps­te, war viel­leicht mehr Gla­mour, defi­ni­tiv jedoch weni­ger „Bus­si, Bus­si“. Und dabei habe ich wohl berück­sich­tigt, dass ich als Jung­spund hier­ar­chisch von wich­ti­gen Wan­gen­par­tien natür­lich weit ent­fernt war. Anfangs kam es spä­ter nur unter lang­jäh­ri­gen Kon­tak­ten und Kol­le­gen zum gele­gent­li­chen XOXO, um Ver­traut­heit und Netz­werk­sta­tus zu unter­mau­ern. Heu­te wird aller­orts hem­mungs­los geherzt, von der Che­fin bis zum Werk­stu­dent, sofern man es nicht bei drei auf den nächs­ten Baum oder den E‑Roller schafft. „Sea­led with a kiss“, gell, Jason Dono­van. Und alle machen mit, mich ein­ge­schlos­sen, wie im schlech­ten Remake einer mit­tel­präch­ti­gen Dietl-Dra­mö­die. War­um? Egal. Don’t talk, just kiss …

Längst ist das Küss­chen näm­lich zum not­wen­di­gen Lip­pen­be­kennt­nis gewor­den. So wie die Mit­glied­schaft bei Xing oder Lin­ke­dIn. Wenig greif­ba­rer Nut­zen, reich­lich Mög­lich­kei­ten für die Auto­sug­ges­ti­on von Erfolg. Hin­ter irgend­ei­nem Klick auf „Con­nect“ könn­te ja der Kar­rie­re­boos­ter ste­cken, wie der Upgrade-Pilz bei „Super Mario“. Glei­ches gilt für das Schmat­zer­chen und die damit zur Schau gestell­te „geschäfts­för­dern­de“ Inti­mi­tät, das vor­ge­gau­kel­te Freund*innen-Feeling.

Bleibt der pla­to­ni­sche Knut­scher aus, gilt es, Nach­fra­gen zu parie­ren: „Wie, du bus­selst dich nicht mit X? Dann wird es höchs­te Zeit, die kennt schließ­lich Y und den Boss von Z. Das sind Super­chan­cen für dein Pro­jekt 123!“ Tja, das bedeu­tet bei grö­ße­ren Ver­an­stal­tun­gen: Reich­lich Was­ser trin­ken und Label­lo nicht ver­ges­sen. Sonst wird nicht nur der Charme sprö­de, schließ­lich droht beim Abschied die glei­che Pro­ze­dur. Es sei denn, man ver­schwin­det klamm­heim­lich (guil­ty!), schiebt ein war­ten­des Taxi vor oder das selt­sam blü­mer­an­te Gefühl nach dem Ver­dau­ungs-Grap­pa. Nicht son­der­lich stil­voll: das Knö­chel­klop­fen auf die Din­ner­tisch­plat­te.

Herzlichkeit, Sympathie und Respekt auszudrücken, das muss auch ohne Bussi klappen. So wie das kumpelhafte Duzen in einem Konzern noch keinen CEO von Massentlassungen abgehalten hat, sollte umgekehrt all das dealing and wheeling ohne gespitzte Lippen möglich sein.

Dann kam die Pan­de­mie, und Küss­chen gab es bloß noch für den Part­ner, die Kids, das Haus­tier. Das Busi­ness-Bus­seln wur­de ersetzt durch tro­cke­ne, keim­freie Emo­jis im Video­call. Bran­chen­wei­ter Ent­zug, cold tur­key. Nix mehr mit „Lass dich drü­cken, Dar­ling“ und *moimo­imoi*. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen erging, aber die wirk­lich guten Kon­tak­te blie­ben genau das. Ohne regel­mä­ßi­ges Bestä­ti­gungs­bus­si in rund 18 Mona­ten. Mehr noch. Mir stieß im Nach­hin­ein sau­er auf, wie sehr die aus dem Kon­text von Fami­lie und Lie­bes­be­zie­hung gelie­he­nen Ritua­le so essen­zi­ell mensch­li­che Gefüh­le und Ver­hal­tens­mus­ter zum rei­nen Selbst­mar­ke­ting und Deal-Schmier­mit­tel degra­diert hat­ten. Zunei­gung und Wie­der­se­hens­freu­de als reflex­haft abge­ru­fe­ne Job-Scha­ra­de.

Statt mich also an Sau­er­teig­bro­ten und dem Har­fe­spiel zu ver­su­chen, fass­te ich den Ent­schluss, den ers­ten Post-Lock­down-Schmatz jen­seits unse­res Haus­hal­tes viel lie­ber mei­ner Mut­ter auf die Wan­ge zu drü­cken als irgend­wem im Rah­men einer Pro­dukt-Prä­sen­ta­ti­on. Nichts gegen Nähe, die tut gut nach der lan­gen Zeit digi­ta­ler Iso­la­ti­on und Anste­ckungs­angst. Nur habe ich mei­ne Stan­dards dafür erhöht, wen ich in mei­nen per­so­nal space vor­las­se. Inspi­riert hat mich dazu ein Satz, den Wolf­gang Joop in einem Gespräch vor vie­len Jah­ren äußer­te. Sinn­ge­mäß sag­te er damals, dass er mitt­ler­wei­le sehr genau prü­fe, wel­che Din­ge er noch in sein Leben las­se. Leicht(er) gesagt für einen Pro­mi, mag sein. Trotz­dem nach­ah­mens­wert und eine gute Maxi­me fürs Mit­ein­an­der.

Herz­lich­keit, Sym­pa­thie und Respekt aus­zu­drü­cken, das muss auch ohne Aller­welts-Bus­si klap­pen, lau­tet mei­ne Theo­rie. So wie das kum­pel­haf­te Duzen in einem Kon­zern noch kei­nen CEO von Mass­ent­las­sun­gen abge­hal­ten hat, soll­te umge­kehrt all das deal­ing and whee­ling ohne gespitz­te Lip­pen mög­lich sein. Das muss ja nicht gleich Unnah­bar­keit und in Innen­räu­men getra­ge­nen Son­nen­bril­len von der Grö­ße einer Kar­ne­vals­mas­ke bedeu­ten. Ich bin gespannt, wie mein Expe­ri­ment ver­läuft. Bus­si 😉

Siems Luck­waldt ist seit rund 20 Jah­ren ein Exper­te für die Welt der schö­nen Din­ge und ein Ken­ner der Men­schen, die die­se Welt mög­lich machen. Ob in sei­nem aktu­el­len Job als Life­style Direc­tor von Capi­tal und Busi­ness Punk, für Luft­han­sa Exclu­si­ve, ROBB Report oder das legen­dä­re Finan­cial Times-Sup­ple­ment How To Spend It.

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Bei­trä­ge von Siems Luck­waldt