„Und, haben Sie einmal versucht, was wir letzte Woche besprochen haben?“
– Zitat meiner Psychologin
Nö. Die gleiche Antwort würde ich übrigens auch auf die folgenden Fragen geben: „Haben Sie in der Pandemie eine weitere Fremdsprache gelernt?“ „Schon ein paar Coronakilos abgespeckt?“ „Mit dem Onlinekurs in Porträtfotografie von Annie Leibovitz begonnen?“ „Nebenbei ein MBA-Studium angefangen?“ „Endlich das Meditationsritual im Tagesablauf etabliert?“ Nö. Leider nein. Non, nada, nix.
Am verfügbaren Input auf allen erdenklichen Kanälen sind diese guten Vorsätze und Pläne nicht gescheitert. Ich könnte die E‑Books, Webinare, Newsletter, Podcasts, verfolgten Influencer und bestellten Produkte zu meinen Wünschen, Träumen und total cleveren, disruptiven Businessideen haushoch und terrabyteweise stapeln. Es trägt auch nicht mangelnde Willigkeit des Geistes die Schuld am kaum verstoffwechselten Content. Es krankt eher an der Motivation, an einer straff organisierten Exekutive. Dazu kommen Sabotageakte durch die vielen Widrigkeiten des Lebens, die es für mich wie für die meisten Menschen zu meistern gilt. Das Extraprojekt im Job, die Sorge wegen eines drohenden Atomkrieges, die kranke Pfote des Familienhundes, die Fantasiepreise an der Zapfsäule. Kurz: Ich scheitere an zu viel „busy work“, zu vielen verfügbaren Inhalten – und zu wenig „Makrobiotisch lebender Digital-Nomade auf Bali“-Glückseligkeit.
Und obwohl ich dank vieler Stunden auf der Therapiecouch weiß, dass ich weder zu faul noch mental unterbelichtet bin, und im Umgang mit mir selbst eher Samthandschuhe als Daumenschrauben gefragt sind, trotz all dieser Erkenntnisse also schaffen es die hausierenden Selbstoptimierer, mir ihren „Be your best self“-Rotz anzudrehen. Unsicherheit, das lernt man in Marketing und Vertrieb, ist einfach das perfekte Verkaufsklima. Ein Mensch, der an sich zweifelt, dem lässt sich nahezu alles offerieren. Coachings, Faltencremes, Smoothie-Pulver, Chakra-Kiesel. In zwölf Raten zu je 29,99 Euro.
Was im privaten Kontext so trivial klingt, hat im Business ein fiebriges Niveau erreicht. Die Branche spielt dabei kaum eine Rolle. Ohne Berater, Workshops, Keynote Speaker, Panel-Diskussionen, Best Cases und Whitepaper scheint kein zukunftsweisendes Weichenstellen mehr möglich. Wer etwas auf sich hält, sichert sich für kurze Zeit ein Eckchen vom Großhirn heiß begehrter Visionäre, Entrepreneure, Experten und Changemaker. Und wer es nicht bis 40 in die FIRE-Rente schafft, der besucht hoffentlich bereits ein Rhetorik-Training, um es diesen Miet-Koryphäen bald gleich tun zu können. Deine Bregensuppe ist zu dünn für einen TED Talk? Dann plane einfach dein eigenes TEDx-Event oder schwadroniere auf YouTube herum.
Man hört sich keinen Vortrag mehr an, man pilgert zu einem Guru. Die Fachtagung wird zum Festival, die Verpackung hat die Verwertbarkeit eingeholt, der Botschafter überragt die Botschaft.
Wer’s braucht, werden Sie jetzt denken. Nicht falsch, denn wer Stützräder benötigt, physische oder gedankliche, der ist natürlich froh, dass das Angebot so üppig und leicht konsumierbar ausfällt. Wie gesagt: Ich strapaziere an der Selbsthilfe-Front auch regelmäßig mein PayPal-Konto. (Luxus-)Problematisch wird es meiner Meinung nach, wenn aus der inhaltlichen Schützenhilfe für Manager, Macher, Menschen eine in sich geschlossene, selbstreferentielle Szene entsteht. Eine „Das kannst du besser“-Bubble, für die weniger der handfeste Nutzen des Kunden oder Publikums im Fokus steht als der Profit. Die sich ein paar Buzzwords krallt und über Monate bis Jahre das letzte Quäntchen herauspresst, um es in irgendein lukratives Content-Produkt zu verwandeln. Die weniger zu Klarheit und zeitnaher Aktion beiträgt als zum white noise, das uns ablenkt und lähmt.
Ein (leider) gutes Beispiel sind da so nebulöse wie essenziell dringliche Themen wie Nachhaltigkeit und Diversität, beispielsweise in der Mode. Ich vermute mal, kaum einer von Ihnen wird aus dem Stand wissen, bei wie vielen Talks und Seminaren Sie in den letzten Jahren dabei gewesen sind oder hätten teilnehmen können. Online, offline, als Messe, Konferenz oder Pop-up-Format. Nach einer Handvoll solcher Termine merkt man nicht nur, dass sich die Reden und Argumente wiederholen wie eine Gebetsmühle, nein, auch die Vortragenden entstammen dem gleichen Casting-Rolodex. Bekannt aus Film, Funk, Fernsehen und von irgendeiner Kongressbühne. Man ist per Du und lädt sich untereinander ein. Zum Panel, zur Buch-Präsentation, für Instagram Live. In den USA hat das im Audiobereich mittlerweile so groteske Formen angenommen, dass sich Podcaster einer Nische fast ausschließlich gegenseitig verhören. Zehn verschiedene Sendungen, zehnmal ständige Cross Promotion, zehnmal endlose Langeweile. Man fühlt sich wie Bill Murray in „Und täglich grüßt das Murmeltier“: jeden Tag „I Got You Babe“ zum Aufwachen.
Längst hat dieses Phänomen des „Samariters als Rockstar“ auch hierzulande ein nervtötendes Niveau erreicht. Man hört sich keinen Vortrag an, man pilgert zu einem Guru. Die Fachtagung wird zum Festival, die Inszenierung hat in der Bedeutung zum Inhalt aufgeschlossen, die Verpackung die Verwertbarkeit eingeholt, der Botschafter überragt die Botschaft. Wer nicht vor Ort sein kann, schaut den Livestream, liest im Newsletter nach, kauft das T‑Shirt. Das Rennen um die letzten ungestörten, nicht mit Appellen vollgemüllten Sekunden unseres Tages ist in vollem Gange. Vielleicht schon entschieden.
Nun mag ich Las Vegas, habe also mit pompösen Auftritten und Lasershows kein Problem. Auch nicht mit einer ordentlichen Dosis Starpower. Bloß verspricht mir der Cirque du Soleil eben nicht, meine E‑Commerce-Performance in die Stratosphäre zu katapultieren und mich über Nacht zum Mini-Musk umzuschulen. By the way: Können wir irgendwann aufhören, die Leistung einzelner „Lichtgestalten“ messianisch zu bejubeln, bei denen mindestens zwischenmenschlich und oft auch im Management-Hirn so manche Birne durchgebrannt ist? Gefeierte Genies, höchstens einen Tweet von der geschlossenen Abteilung entfernt.
Wer sich tatsächlich aus eigener Kraft ändert, der fällt als Kunde aus. Das will keiner, also werden wir weiter zugeschwallt mit immer neuen Schlagworten und How-tos. Denn wer atemlos dem Morgen hinterherhechelt, der braucht noch mehr kostspielige Anregungen.
Warum sind wir nur so anfällig für die Berater-Blase, die „Live your best life“-Verführer, die Just-Do-It-Dauerschleife im günstigen Monatsabo? Wieso gründet jeder plötzlich eine „Academy“, wo man „Retail Secrets“ und Scheinfasten lernen kann? Letzteres kann ich Ihnen jetzt und hier beibringen: Einfach ganz normal weiter essen. Gern geschehen. Vertrauen wir unseren eigenen Fähigkeiten nach jahrzehntelanger medialer Zermürbung so wenig, dass wir für alles fremde Hilfe brauchen? Die Neuorganisation eines Unternehmens geht nicht ohne Consultant. Die Outfitwahl klappt nicht ohne Stylist. Das Kochen nicht ohne Paket von Hello Fresh… Das Umdenken von sozialer und ökologischer Ausbeutung auf „Sei halt kein Arschloch“. Das Geldanlegen als Frau… was immer das heißt. Ist es das, was Soziologen als Infantilisierung der Gesellschaft beschreiben, und dank der sich gut gebuchte Superprofis ihr drittes Haus am See verdienen?
Um Ihnen ein paar Bitcoins zu sparen (die Sie vermutlich bald in Wäschekörben zum Rewe bringen müssen, wie meine Oma einst die Nachkriegsmark) kann ich Ihnen gern noch ein paar Weisheiten verraten, die Sie von solch umjubelten Überfliegern zu erwarten haben: „Das Metaverse wird eine wichtige Rolle spielen.“ Ja, super, wo doch dort bald Powerpoint funktionieren soll. Geil, oder? „Ohne Influencer läuft nichts mehr.“ Nur vielleicht besser keinen Fynn verpflichten. „Ein Unternehmen muss Haltung zeigen.“ Nach außen. Innen ist wurscht. „Ich sage nur: Omnichannel.“ Boah, echt jetzt? Ich channel, du channelst, wir channeln. „Wir tragen als Marke Verantwortung für die Welt, in der wir leben und handeln.“ Vor allem aber gegenüber unseren Shareholdern. „Nachhaltigkeit ist ein komplexes Thema.“ Und mit dieser Komplexität lässt sich irre Kohle verdienen. „Der Kunde will bei uns in eine aufregende Welt eintauchen.“ Nö, er will eigentlich auf der Couch RTL+ gucken und nebenbei kurz was auf dem iPad ordern. Nicht zu vergessen: „Happy Pride month, y’all.“ Ringen um Gerechtigkeit als leichtverdauliches Regina-Regenbogen-Merchandising, ne watt schön. Stößchen.
Ein Klischee-Kanon, der den Zuhörer wieder und wieder berieselt und einlullt, in ein Gefühl, Zeitgeist und Zukunft ganz nah zu sein. Der langfristige Erfolg ist mit einer Verhaltenstherapie vergleichbar: „Stimmt, man müsste wohl wirklich mal … Wir sehen uns dann nächste Woche.“ Es siegt der alte Trott. Das ist der Anbieterseite eh am liebsten, schließlich will man viele weitere Tickets verkaufen. Wer sich tatsächlich aus eigener Kraft ändert, den Karren selbst aus dem Dreck zieht, der fällt nämlich als Kunde aus. Das will keiner, also werden wir weiter zugeschwallt mit immer neuen Schlagworten, Plattform-Tricks und How-tos. Denn wer atemlos dem Morgen hinterherhechelt, der braucht noch mehr kostspielige Anregungen: für Selfcare bei der Megakarriere, gegen Burnout als Influencer, you name it. Und ganz viel hot shit zur richtigen Unternehmensstruktur sowie zum homöopathischen Personalabbau, ohne dass Kolleg:innen merken, warum sie ihren braunen Pappkarton packen.
Früher wurden die gleichen Fehler gemacht wie heute, und manchmal standen sogar die Macher selbst zu ihrer Fehleinschätzung. Ohne Coaches, denen sie die Misere in die Schuhe schieben konnten.
Nur zum Nachbereiten der unzähligen Panels, Workshops, Talks und Fachbücher kommt kaum mehr jemand. Zum Innehalten, kritischen Hinterfragen, vielleicht auch zum Einfach-mal-vor-sich-hin-Grübeln. Ohne Guru im Ohr und Slides vor der Netzhaut. Zum Wiederentdecken der eigenen Fähigkeiten, das Morgen zu gestalten und kluge Gedanken von Buzzword-Bullshit zu trennen.
Dabei ging das doch früher auch. Da haben Chefs ihre Firmen ohne Berater geführt, ohne viertägige Konferenzen und „Man könnte, sollte, müsste“-Bingo. Da wurden die gleichen Fehler gemacht wie heute, und manchmal standen sogar die Macher selbst zu ihrer Fehleinschätzung. Ohne Coaches, denen sie die Misere in die Schuhe schieben konnten. Darum geht es schlussendlich bei dem ganzen Theater: Wissen und Entscheidungen outzusourcen, weil sich keiner mehr aus der Deckung traut (vgl. hierzu: „Die neue Hasenfüßigkeit“). Unsicherheit durch eine immer kompliziertere Geschäftswelt, mangelnde Muße, sich ein Bild zu machen und die next steps abzuleiten, sowie Feigheit, auch mal richtig was zu versemmeln – aus diesem Dreiklang generiert eine eingeschworene, sich bestens vermarktende Crew gigantische Honorare. Wieder und wieder, weil die Umsetzung nur einem winzigen Bruchteil der Teilnehmer und Kunden gelingt. Der Quell, der nie versiegt. Halleluja.
Wenn ich selbst einmal wieder um meine zwei Cents zu strategischen Herausforderungen gebeten werde, einem munteren Brainstorming, dann werde ich das wohl ein wenig im Steinzeit-Stil aufziehen. In Alltagsklamotten natürlich, nicht im Säbelzahntigerfell. Dafür im bedächtigen Tempo unserer Urahnen, die – wie wir – keinen M1-Prozessor im Stirnlappen verbaut hatten. Die allabendlich in ihrer Höhle am Lagerfeuer saßen, dem Mammutsteak beim Brutzeln zusahen und Resümee zogen. Von der ersten Fährte über die gefährliche Jagd bis zum geglückten Erlegen des Puschel-Elefanten. Was mache ich nächstes Mal besser? Brauche ich eine neue Lanze mit Flintspitze? Sollten wir die Pirschgruppe vergrößern? Brauchen wir Mitstreiter mit anderen Skills dabei? Hm, mal überlegen. Hatz um Hatz entstand, vermute ich, ganz organisch ein Masterplan, der es wert war, auf die Höhlenwand gekritzelt zu werden. Eventuell hat Genosse Urmensch auch seinen Stammesweisen befragt, wie Effizienz und Synergien erhöht werden könnten. Diesen Rat aber mit dem halben Mammut zu bezahlen, das wäre wohl keinem Neandertaler eingefallen.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.