Wer mich ein wenig näher kennt, der weiß: Im Job fahnde ich zwar seit vielen Jahren leidenschaftlich nach dem Besonderen, mit der Beharrlichkeit eines Trüffelsuchhundes und der Präzision eines Militärradars. Doch privat bin ich vom Attribut „shopaholic“ so weit entfernt wie Dubai von der Demokratie. Vielleicht, weil ich meine eigenen Kaufgelüste im Dienst der Leser auf Magazinseiten auslebe. Ein Samstag-Highlight besteht für mich jedenfalls nicht in der bangen Frage: „Haben Sie das zufällig auch in L und Marineblau?“. Da lasse ich mich lieber impfen.
Nicht dass Sie jetzt denken, meine hart ertippten Euros für Mode-Anschaffungen wanderten stattdessen in Mr. Bezos zum Bersten gefüllte Geldspeicher oder in sein wahnwitziges Raketenprogramm. Nein, ich raffe mich einfach an genau zwei Tagen pro Jahr zu effizient geplantem, extrem entscheidungsfreudigem Power-Shopping auf, und nutze mein berufliches Know-how ausnahmsweise für die Mission „Kleiderschrank-Update“.
Seit ein paar Wochen nun schlendere ich in Tagträumen wieder und wieder durch penibel aufgeräumte Boutiquen, halte große, mit prächtigen Lacklogos bedruckte Papiertaschen in der Hand, mustere neugierig jedes Schaufenster, jede „New Collection“-Stange und Sale-Zone. Sind das psychische Pandemie-Folgen, muss ich mir Sorgen machen? Interessant: Ich spaziere nicht etwa die Mönckebergstraße entlang, flaniere nicht am Ku’damm oder auf der Zeil. Meine imaginierten Exkursionen führen mich stattdessen an einen Ort, für den schon vor Covid-19 die Totenglocken läuteten: das Einkaufszentrum.
Darin, dass mein Unterbewusstsein positive Schlagzeilen zu diesem Thema verarbeiten muss, kann dieses Phänomen eher nicht begründet sein. Rund 75 Prozent der deutschen Arkaden sollen im letzten Jahr Mieter eingebüßt haben, in den USA kämpfen 12 Prozent der Malls schon lange mit Leerstand, und weder Millennials noch jüngere Generationen können dem Konzept noch wirklich begehrliche Seiten abgewinnen. Experten sehen eine zunehmende Abkehr vom Rundum-Sorglos-Ausflug auf die Grüne Wiese. Warum dann meine nächtlichen Visionen?
Vielleicht, weil andere Experten deutlich hoffnungsvollere Prognosen wagen. Sie sehen einen kleinen Kern der Shopping-Malls nach Corona im Aufwind des Zeitgeschehens. Grassierende Stadtflucht, beflügelt durch digitale Transformation plus Homeoffice, horrende Metropolen-Mieten, hohe Bevölkerungsdichte („Viren!“) und veränderte Ansprüche an die Balance zwischen Arbeit und Leben. Da lockt plötzlich das Gartenzwerg-Idyll im Umland und macht dortige Einkaufsoasen eventuell zu Trendgewinnern in Regionen, wo eine Lidl-Filliale den Höhepunkt modischer Grundversorgung darstellt. Die besten Malls, sagen Retail-Profis, stehen jenseits der Kennzeichenbereiche HH, B oder M und machen durch genaue Kenntnis ihrer Zielgruppen und lokal inspirierte Kreativität einen guten Job. Verkehrte Welt also, in der die (Vor-)Vororte neue Konsumanreize schaffen und die Laden-leeren Großstädte ihre grüne, sportliche, soziale Seele wiederentdecken, weil sonst in ihrer Mitte die Lichter ausgehen? Jein, vielleicht, äh, keine Ahnung.
Doch wie bei meinen vorangegangenen Impulsen zur Gründung eines deutschen Luxuskonzerns oder dem Appell für kreativere Home Collections für uns Corona-Stubenhocker bin ich der Meinung: Hier lohnt sich ein ergebnisoffener Diskurs.
Ein Einkaufszentrum verströmt im Idealfall kuratierte Vielfalt, zentral geplante Sicherheit und Hygiene (!), Komfort und die angenehme Abgeschlossenheit eines Magazins – wer durch alle Seiten, sprich Etagen, durch ist, kann ein Häkchen machen. Ohne „Kunden kauften auch“-Endlosschleife. Betreutes Einkaufen mit kulinarischen Schmankerln und Gratis-Parken.
Generell sollten Shopping-Malls ihr Profil schärfen und nicht länger auf die Zugkraft eines anchor stores setzen. Das große Ganze und nicht seine Teile müssen zum Star werden – und der Mut zum Experiment das neue Normal. Als gedankliche Starthilfe denke ich da mal kurz etwas laut und unsortiert vor:
Wo die Schrebergarten-Parzellen allerorts knapp werden, warum nicht vertikale Gemüsegärten – und ihre privaten Pächter – das kahle Atrium bevölkern lassen? Eine Craft Brewery mit Ausschank, wenn der Kaufhof-Koloss schließt. Ein Club für Comedy und Poetry Slams statt verwaistem Multiplex. Ein Raum für wechselnde Pop-up-Stores von „Insta Brands“. Mal wieder eine richtige Postfiliale, wo gerade auf dem Land selbst Post-Shops im Einzelhandel rar sind. Eine Drogerie mit medizinischer Grundversorgung angesichts fehlender Ärzte in der Fläche. Innovative Angebote für Nachhilfe-Unterricht, für Wellness fern von Lash Bars, fürs Töpfern gegen Stress. Eine E‑Sports-Akademie. Personal Shopping, speziell für ältere und Menschen mit einer Behinderung. Mitreißende Hybrid-Events zum Auch-daheim-Verfolgen statt alberner Saison-Modenschauen mit Proseccöööchen. Selbst initiierte Concept Stores mit nachhaltigem Marken-Mix. Mehr hochwertige Restaurants statt Fast Food Courts. Gezielt lokale Start-ups reinholen, als sich die x‑te langweilige Ketten-Filliale andrehen lassen. Nordic-Walking-Parcours mit Morgenkursen, wie in Amerika üblich, quasi traffic mit Anmeldung. Mehr App-Optionen beim Shopping, die über Etagenplan und Newsletter-Sign-up hinausgehen. Und ganz wichtig: Eher weniger Mode und Footwear, um Platz für die erwähnten Ideen und viele mehr zu machen!
Nun wird mancher sagen: Wer Malls mag, der kann sich auch für Urlaub in Las Vegas begeistern. Stimmt, mir macht Künstlichkeit auf Highend-Niveau durchaus gute Laune. Mehr als das. Ein Einkaufszentrum verströmt im Idealfall kuratierte Vielfalt, zentral geplante Sicherheit und Hygiene (!), Komfort und die angenehme Abgeschlossenheit eines Magazins – wer durch alle Seiten, sprich Etagen, durch ist, kann ein Häkchen machen. Ohne „Kunden kauften auch“-Endlosschleife. Betreutes Einkaufen mit kulinarischen Schmankerln und Gratis-Parken. Von mir aus inklusive Nasenloch-Abstrich. Nach einem Jahr Lockdown klingt all das wirklich nach einem wahren Walhalla.
Okay, meine Mall-Nostalgie wird wohl nicht reichen, um das Geschäftsmodell zu retten und die Abwanderung der Portemonnaies ins Web aufzuhalten. Doch gerade in einer verunsichernd dynamischen Lage wie derzeit könnte die Mall als Verlässlichkeit und Inspiration verheißende Location reüssieren. Zu früh jedenfalls, um diese einst heiligen Hallen der Zerstreuung ideenlos abzuwickeln. Sobald es wieder möglich ist, plane ich jedenfalls einen Trip ins Hamburger AEZ, zum Designer Outlet nach Neumünster und in die Mall of Berlin am Potsdamer Platz. Einen Starbucks-Becher in der Hand, in jeden Laden einmal rein, ‘ne eher durchschnittliche Pizza zum Lunch und vor dem Heimweg ein Eis. Wie früher. Ach, schön.