„Mama, ich bin Angst“, sagt der kleine Junge. Mit weit aufgerissenen Augen steht er mitten im Raum des New Yorker Loftbüros. Die feuerroten Strahlen der Nachmittagssonne tauchen die Szene in dramatisches Licht. Für einen Augenblick schwankt die Mimik der Umstehenden ob seines mit zittriger Stimme vorgetragenen Denglisch zwischen besorgter Miene und breitem Grinsen. Später, als die akute Furcht des Kindes lange verflogen ist, wird sein Statement zum Insiderspruch. Rausgekramt, wann immer Teamkollegen einen unangenehmen Anruf tätigen, eine mit Bauchweh erwartete E‑Mail öffnen müssen. „Mama, ich bin Angst“, da steckt halt alles drin.
Rund zwei Jahrzehnte nachdem sich dieser Moment in mein Gedächtnis gebrannt hat, denke ich wieder häufiger daran. Weil ich mir vorstelle, dass viele CEOs, COOs, CFOs oder C[setzen Sie doch selbst Buchstaben ein]s, sicher ähnliche Worte für mulmige Gefühle in der Magengrube finden. Morgens im Aufzug, ehe sich die Türen zur Etage ihres Eckbüros öffnen. Vor dem Spiegel überm Waschbecken, in einer Boardmeeting-Pause. An der Ampel, unterwegs zum überlebenswichtigen Kundentermin. Und solche Momente, darauf will ich hinaus, scheinen sich in letzter Zeit zu häufen. Schon vor der Corona-Pandemie.
Anders kann ich mir die Tendenz nicht erklären, dass Topmanager von ihren Kommunikationsprofis zunehmend in fluffig-dicke Lagen aus Schaumstoff gehüllt werden. Plus Auffangnetz, doppeltem Boden, Schwimmflügeln und Stützrädern. Bildlich gesprochen, klar. Während Branding-Gurus überall die Vorzüge der Authentizität beschreien, Marken und Machern raten, ganz offen Fehler einzugestehen, sich verletzlich, also menschlich, zu zeigen. In meiner anekdotischen Wahrnehmung geht der Trend in die Gegenrichtung: geschützte Flanken, geschlossene Wagenburg, die Schilde hoch. Bloß nirgends anecken: beim Vorstand, den Aktionären, den Kunden, Behörden, der öffentlichen Twitter-Meinung.
Handlungsfähig bleiben, ohne handlungsauffällig zu werden. Eine kaum zu meisternde Gratwanderung.
Trotzdem sollte man, und nun wird es richtig vertrackt, gerade so viel agieren, um den Stempel „lame duck“ zu vermeiden. Handlungsfähig bleiben, ohne handlungsauffällig zu werden. Eine kaum zu meisternde Gratwanderung. Da wird aus gesundem Selbsterhaltungstrieb mitunter eine nervöse, kommunikative Zwangsstörung und jeder Schritt so akribisch vorbereitet, dass ihn am Schluss keiner mehr gehen mag. Jede Äußerung so lange glattgebügelt, dass die Satzzeichen manchmal die klarste Sprache sprechen. Corporate Responsibility wandelt sich zur lähmenden Corporate Cowardice und der angriffslustige Tiger an der Konzernspitze landet als kuschliger Bettvorleger. Parallelen zur Politik sind natürlich rein zufällig.
Dass wir uns richtig verstehen: Als jemand, der von Rückenschmerzen geplagt wird, kann ich diese Vermeidungsstrategie durchaus verstehen. Wer akute Schmerzen erlebt hat, oder einen shitstorm wegen zu gering entwickelter wokeness im Unternehmen, der geht eben zur Schonhaltung über. Bewegt sich kaum noch bzw. sagt gar nichts mehr oder einzig mit zig Durchschlägen und Korrekturschleifen. Leider führt das jedoch wie beim Lendenwirbel-Aua zu neuen Beschwerden, ausgelöst durch die mal gut gemeinten Gegenmaßnahmen von Hirn und Muskeln. Wer zu viel schweigt, verliert an Aufmerksamkeit, wer nie Haltung gezeigt hat, hat es schwer, sich später auf moralische Integrität zu berufen, und so weiter.
Ich habe aber noch aus einem anderen Grund vollstes Verständnis für die Hasenfüßigkeit bei Markenlenkern und Parlamentariern: und das sind wir selbst. Weil wir zu selten belohnen, wenn umgesetzt wird, was wir wenige Atemzüge zuvor wutschnaubend eingefordert haben. Ja, nein, so hatten wir uns das aber nicht … Weil uns komplexe Sachverhalte immer öfter überfordern und wir mit andauernder Ungewissheit erstaunlich schlecht umgehen könne, Krisen allenfalls in Form von „Herausforderungen“ ertragen. Stattdessen sind wir mittlerweile große Meister der Autosuggestion geworden. Wir glauben dem Silicon Valley, dass der Weltfrieden bloß eine App entfernt ist. Dass Klimaschutz und Tierwohl ohne jeglichen Verzicht erreicht werden und Armut ohne geteilten Reichtum. Und manche glauben, dass Arznei für die Viehentwurmung großes Potenzial als Covid-19-Killer hat.
Ist es da verwunderlich, dass mancher Entscheider Skrupel bekommt, uns reinen Verbal-Wein einzuschenken oder mit seiner fundierten, deutlichen Antwort auf ein Problem allein im sozial-medialen Starkregen zu stehen? Wenn wir so offensichtlich mit den unbequemen Wahrheiten des Erwachsenenlebens hadern?
Mut zur Offenheit, zur Strategieunsicherheit und Wissenslücke könnte helfen. Sich die Mühe zu machen, zu einem Sachverhalt zwei gleichzeitig gültige Wahrheiten im Kopf zu behalten.
Wohin diese Entwicklung führt – die Angst vor der auch mal kontroversen Aktion und die Bestätigung dieser Angst durch ein Publikum, das am liebsten schwimmen lernt, ohne nass zu werden – kann man bereits bei jungen Gründern beobachten. Wer nach deren millionenschweren ABC-Runden kurz mal die Reagan’sche Frage „Where’s the beef?“ stellt, riskiert prompt, in Ungnade und aus der Clubhouse-Gruppe zu fliegen. Zu viele Teilnehmerurkunden und elterliche „Du kannst alles werden, was du willst“-Beteuerungen, vermutlich. Da verkraftet kein Disruptor-Traum mehr einen reality check.
Nun wünsche auch ich mir den cholerischen Chef alter und übler Schule keineswegs zurück. Dafür habe ich zu Beginn meines Berufslebens zu viele Adern auf puterroten Stirnen zu Makkaroni anschwellen sehen. Ebenso wenig Bedarf habe ich für eine #broculture hinter deren Hemdsärmeligkeit und Bubi-Charme sich ähnliche mitmenschliche Abgründe auftun, wie beim Patriarchen mit Vorzimmerfrollein und Zigarrenkiste auf dem Mahagonischreibtisch.
Die Lösung? Tja, auf die können wir wohl nur gemeinsam zustreben. Mut zur Offenheit, zur Strategieunsicherheit und Wissenslücke könnte helfen. Sich die Mühe zu machen, zu einem Sachverhalt zwei gleichzeitig gültige Wahrheiten im Kopf zu behalten. Gerade in der Mode sollte das klappen: Querstreifen sind „in“ UND machen optisch dick. Bärte sind cool UND zu omnipräsent. „House of Gucci“ wird vielleicht kein guter Film aber sicher ein guter Gaga-Film. Sie wissen, was ich meine.
Das Leben ist komplex, nicht zu ändern. Warum da von den oberen Sprossen der Hierarchie-Leiter stets einfache (geschönte, gelogene) Antworten einfordern? Das ergibt keinen Sinn, auch wenn sich unser Gehirn wirklich ungern anstrengt. Dann eher mal „Mama, ich bin Angst“ murmeln. Das ist wenigstens authentisch.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
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