„Du schaust super aus!“, tönt es aus der Menge. Lena Mahfouf, einst Lena Situations, 24 Jahre, 3,5 Millionen Follower auf Instagram, schenkt den Fans vom Trittbrett ihrer Limousine, die gerade die ganze Straße blockiert, ihr schönstes Lächeln. Sie trägt ein Hauch von Nichts, eine Minikleid aus Metallsternen und ist auf dem Weg zur Paco Rabanne-Show. Es ist der letzte Tag der Männermodewoche in Paris. Weder ist die Show von Rabanne ein Highlight des Kalenders, noch ist das Wetter mit feuchten vier Grad Celsius so, dass man gerne sich draußen aufhält. Aber vor dem Palais de Tokyo ist die Hölle los. Seit rund einer Stunde tummeln sich hier junge Leute, die meisten gekleidet in auffällig bunten Outfits oder in Looks aus dem Kleiderschrank von Opa und Oma. Alessandro Michele von Gucci hätte seine Freude. Die meisten hier sehen so aus, als kämen sie direkt von seinen Laufsteg oder als hätten sie eine Zeitreise aus den 70er- und 80er-Jahren hinter sich (Fotos: BM).
Was die ganzen Menschen hier wollen, frage ich ein junges Mädchen, geschätzte 16 Jahre alt. Sie antwortet: „Ich bin hier, um Leute und ihre Looks anzuschauen.“ Noch vor ein paar Jahren war die Motivation, sich ohne Einladungskarte zu einer Modenschau zu bewegen, eine ganz andere. Damals antworteten die meisten, dass sie versuchen, irgendwie in die Show reinzukommen – heimlich über Hintereingänge oder als Standing. Das jedoch scheint hier am Platz niemanden mehr zu interessieren. Die Leute sind gekommen, um sich zu treffen und ihre Outfits zu zeigen. Das Defilee bietet nur Anlass und Ort des Treffpunkts. Auch die Stars, die ab und an die Menge durchqueren, sind nicht bekannt aus Film, Fernsehen oder aus der Musikszene, sondern aus Instagram. Der so oft totgesagte Streetstyle ist keineswegs tot, sondern quicklebendig – aber hat nur noch wenig mit der eigentlichen Modewoche zu tun.
Es lohnt ein Blick zurück: Die Influencer-Szene hatte bereits vor Beginn der Pandemie in 2020 ein Höhepunkt erreicht. Die Instagram-Stars saßen Front-row, wurden hofiert und mit Kleidern, Schuhen und Accessoires ausgestattet. Dann kam COVID, die Modeschauen fanden digital statt und das ganze Theater rund um die Schauen bekam einen faden Beigeschmack. Viele glaubten und die klassischen Medien hofften, dass man zu traditionellen Werten und damit auch zu den Printanzeigen zurückkehren würde. Doch das Gegenteil traf ein. Die Social-Media-Kanäle explodierten, neue Akteure rückten ins Blickfeld, meistens Mädchen und Jungs von nebenan. So wie Lena Mahfouf. Sie ist klein, hat keine Modelfigur, aber vor allem ist sie „umwerfend normal“.
Ein Catwalk der Individualität, der Innovation und der Interpretation. Ein Defilee der neuen Ideen mit alten Sachen.
Statt wie von so einigen altgedienten Modeschauen-Besuchern erhofft, kamen also nicht die Influencer, sondern die Mode selbst in der Pandemie auf den Prüfstand: Sie war plötzlich verschrien als zweitgrößter Umwelt-Verschmutzer und Menschen-Ausbeuter. Die Generation Z suchte nach Lösungen und fand diese vor allem im Gebrauchtmode-Markt: Recycling, Upcycling, Vintage und Secondhand liegen nun im Trend wie nie zuvor. Genau diese neue Haltung zum Modekonsum spiegelt sich nun auch in der Menge vor der Schau wieder. Man zeigt, welche Looks man aus alten Sachen machen kann und welche tollen Outfit-Ideen die Reste aus dem Kleiderschrank hergeben. Dass drinnen in der Show „neue (meistens unrecycelte) Mode“ präsentiert wird, ist deshalb gar nicht mehr so wichtig. Insbesondere weil die Designer eh ständig Reminiszenzen alter Archivmodelle auflegen.
Draußen vor der Fashionshow findet heute parallel eine ganz andere Show statt: eine Art Catwalk der Individualität, der Innovation und der Interpretation. Es ist das Defilee der neuen Ideen mit alten Sachen. Der Streetstyle lebt – nur anders und passend zum Konsumdenken der Post-COVID-Zeit.