Okay, da drängt sich jetzt natürlich der Nostalgie-Kalauer auf, dass früher einfach mehr Lametta war. Und nicht-veganes Schmalzgebäck. Ob das stimmt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Zum einen, weil meine Augen als Kind und Teenager noch nicht von zuckrig süßen Videoschnipseln aus dem globalen Xmas-Dorf verdorben waren, die sämtliche sozialen Kanäle mit Puderschnee bestäuben.
Wer rund um die Uhr die weihnachtlichen Highlights aus Tokio, Newport, London, Seoul oder aus Lappland sehen kann, den haut das Lebkuchenhaus im Schaufenster vom Modefilialisten in irgendeiner bundesdeutschen Fußgängerzone eben nicht mehr vom E‑Schlitten. Gleiches gilt für den Crêpestand auf dem Weihnachtsmarkt – umringt von Anti-Terror-Betonpollern – und den Leierkastenmann mit der niedlichen Mischlingshündin an der Leine. Gegen die Insta Reels von anderswo sowie die millionenschwere Konzern-Grandezza von Dior oder Cartier, wo das KaDeWe „getakeovert“ wird und Flagships auf der 5th in riesiges Ripsband gewickelt werden, wirken selbst Neuer Wall oder Maximilianstraße etwas piefig. Erste Adressen, ja, und doch so schmucklos, dass Santa Claus vermutlich einen Praktikanten dort vorbeischicken würde.
Zudem haben wir, da müssen wir uns an die eigene frostrote oder regenfeuchte Nase fassen, die Weihnachtszeit und ihre Symbole, Farben, Bilder und Gerüche längst outgesourct. An Coca-Cola, an Milka, an Douglas und zahllose mehr. Deren Marketing liefert jetzt eben ganz verlässlich seine global akzeptablen visuals, und wir merken, dass man Werbung weder essen noch tief drinnen wohlig fühlen kann. Statt von der Magie im Advent sind wir bis zu den kalten Ohren umringt von inhaltsleeren Abziehbildern und konsumstrategisch optimierten Klischee-Szenarien. Ein Abverkaufsevent ohne Seele, wie Black Friday oder Cyber Monday. Nur mit gebrannten Mandeln und fuseligem Glühwein.
Wie es, ein Stück weit, anders geht, habe ich vor wenigen Tagen in London erlebt. Klar, die großen, teuren Fashion Brands sind alle da. No surprise. Und sicher gibt es auch auf Oxford, Bond oder Jermyn Street die eine oder andere Zahnlücke in der Ladenzeile. Trotzdem schlenderte ich an einem ganz anderen Shopping-Mix und einer, hm, anscheinend inniger gepflegten Christmas-Tradition vorüber. Da kletterten kleine Pinguine die Loewe-Fassade hinauf, lockten Matcha-Plätzchen bei Fortnum & Masons, war nahezu jede viktorianische Fassade mit weitgehend einheitlichen Girlanden aus Tanne und goldenen wie roten Kugeln dekoriert. Man schien bereit und Willens, diese vier, fünf Wochen zu zelebrieren, gern hedonistisch. Vom Lädchen für Hosenträger in der Burlington Arcade bis ins gehobene Shopping-Wunderland Bicester Village, wo eine Gruppe livrierter carol singers die Tüten schleppenden Paare und Familien mit stimmungsvollen Weisen erfreuten.
Es ist vielleicht diese detailversessene Wes-Anderson-Ästhetik, die britische von deutschen Weihnachten unterscheidet. Alles ist üppig und bis in den letzten Winkel ausgestattet, man feiert eine wohlige Heimeligkeit statt spektakulärer Selfie-Spots – und steht beim mulled wine zusammen. In Hamburg hat derweil selbst das Ritual des gemeinsam mit Kolleg:innen gekippten Glögg nach Feierabend spürbar abgenommen. Als wäre man vom christmas spirit enttäuscht und schmolle daher lieber im Teams-Chat vor sich hin.
Vielleicht braucht unser Einzelhandel gerade in diesen Tagen eine neue, authentische, ernstgemeinte und gern überschwängliche Willkommenskultur.
Ich hingegen war in diesem Herbst und Winter so sehr in Kauf- und Geschäfte-aufsuchen-Laune wie ewig nicht mehr. Und da und dort wurde das auch vom Personal auf der Fläche honoriert. Dieses halbvolle Glas will ich in Erinnerung behalten, während 2023 seinem Finale entgegenhetzt. Ich bin dankbar für die shopkeeper und floor models (hieß das nicht bei Abercrombie mal so?), die auf ihr Metier noch „Bock“ haben. Wie den fantastischen Jungverkäufer bei Anson's im Hamburger Elbe-Einkaufszentrum, der wie aus dem Ei gepellt aussah, fachkundig beriet und eine ältere Kollegin freundlich bat, sich von ihm die (zahllosen …) Fussel vom Cardigan bürsten zu lassen. „Ich finde das nicht so schön vor den Kunden“. It's the little things.
Oder die Teams bei Eleventy und anderswo im Bicester Village, die genau den sweet spot zwischen proaktiv und enervierend trafen. Die sogar selbst etliche Stücke fotografiert hatten, die es bisher nicht aus dem Lager geschafft hatten, die man aber ja vielleicht auch sehen wolle. Das klingt doch viel, ho ho, weihnachtlicher als „Nur was hier hängt!!!“ Was mir in der luxury shopping destination ebenfalls sehr zusagte, war die angenehm divers zusammengesetzte Retailmannschaft, die sich – von außen betrachtet – sichtlich wohlfühlten und das an ihre Kunden weitergaben.
Vielleicht braucht unser Einzelhandel gerade in diesen Tagen eine neue, authentische, ernstgemeinte und gern überschwängliche Willkommenskultur. Schließlich ist Weihnachten für Alle da: Paare jeglicher Kombination, Singles, heteronormative und Patchwork-Familien sowie sämtliche chosen families unter der Wintersonne. Das wäre mal was, und noch dazu gratis. Happy holidays!
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das Financial Times-Supplement How To Spend It. Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Dort gibt es alle zwei Wochen seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Hier geht es direkt zum Abo.