Im Business ist es wie in der Mode: Themen kommen und gehen, manche bleiben. Als ich vor über einem Jahr an gleicher Stelle schrieb, man solle beim Thema Metaverse nicht den Kopf in den Sand stecken, aber auch nicht ins grelle Licht fliegen, gab es viel Zuspruch. Inzwischen haben die Krypto-Eiszeit und die sich in ihrem Wert selbst auflösenden NFTs den Tech-Dysphorikern viel Rückenwind gegeben. Dennoch gibt es nicht wenige, die gleich auf den Zug aufgesprungen sind und zugunsten des hellen Web3-Lichts weniger strahlende Themen hintenangestellt haben. Alles eine Frage der Opportunitätskosten.
Seit November gibt es mit ChatGPT ein neues helles Licht. Viele der selbsternannten Web3-Experten satteln nun auf künstliche Intelligenz um. Damit gibt es nicht nur ein neues Spielzeug für LinkedIn-Poeten aller Hierarchieebenen und Fachrichtungen, sondern wohl kaum eine Konzernzentrale, in der nicht mit Hochdruck an PR-wirksamen Cases gefeilt wird. Im Zweifel auch auf Kosten weniger strahlender Themen und damit wieder eine Frage der Opportunitätskosten.
Das analoge Lager lächelt bei solchen Wellen mitleidig amüsiert und verweist gerne auf sein hemdsärmeliges Tagesgeschäft. Dort kämpft man zwar nicht mit strahlenden digitalen Themen, bräuchte aber angesichts schwacher Frequenzen, Umsätze und Ergebnisse dringend Ideen jenseits des gebetsmühlenartig proklamierten (und nicht selten unvernünftigen) Kanons von Expansion und Omnichannel.
So unterschiedlich sie sind, eines haben das grelle Licht der digitalen Blase und die ausgetretenen Pfade der Traditionellen gemeinsam: Sie lenken ab. Aber da die Krise den Blick auf Opportunitätskosten und Prioritäten verändert hat, lohnt es sich, neu nachzudenken. Hier sind drei alternative Denkanstöße fürs nächste Strategie-Meeting:
Hebel nutzen: von hinten nach vorne optimieren. Wer nicht das Kapital und die Ressourcen für die gleichzeitige Arbeit am gesamten Trichter hat, sollte auf Wirkung optimieren. In der Regel diskutiert man aber mehr und länger über die Models auf den Werbemitteln, über die Schaufenstergestaltung oder der Look der Webshop-Startseite als über die Effizienz des Checkouts, die Retourenquote, die logistische Effizienz der verschiedenen Omnichannel-Lager oder die Überhang- und Abschriftenquote. Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, dass wir uns mehr für den vorderen Teil des Kauftrichters interessieren. So verständlich das ist, so falsch ist es in Bezug auf die Hebelwirkung. Denn je weiter hinten im Trichter die Maßnahme ansetzt, desto höher ist der Wirkungsgrad und damit die Ergebniswirkung.
Die Hebelwirkung der Artikel-Detailseite auf den Umsatz ist zum Beispiel deutlich höher als die der vorderen Einstiegsseiten, die Optimierung des Check-Outs bringt in der Regel am meisten. Das Marketinggeld für die Bruttobestellung ist ausgegeben, der oder die Kund:in hat sich durch den Shop und den Check-Out gearbeitet, die Logistik zum Kunden ist bezahlt – jeder Punkt weniger Retourenquote ist damit reines Ergebnis. Und die falschen Mengen der falschen Ware liegen wie Blei im Shop und werden imageschädigend mit Rabatten rausgedrückt. Um auch nur mit 30% Rabatt das gleiche Ergebnis zu erzielen wie mit vollem Verkaufspreis, müsste ein Hersteller allerdings 100% mehr davon verkaufen. Eine reine Illusion. Statt also reflexartig in den nächsten Euro Bruttoumsatz oder ausschließlich in Wachstum über Neukunden-Gewinnung zu investieren, lohnt es sich, Investitionen in Bestandskunden-Pflege, also CRM, und die systematische Effizienzsteigerung zu priorisieren, sich also zum Beispiel um die Reduzierung von Retouren, Überhängen und Abschriften zu kümmern. Das dankt in Zeiten hoher Kapitalkosten und Liquiditätsanforderungen nicht nur die GuV, sondern auch die Umwelt.
Eine Strategie definiert das Spielfeld und legt fest, wie man dort gewinnen möchte. Konkret, spezifisch, handlungsorientiert. Welche Leistung biete ich wem, wie, wo, damit ich besser bin als die Nummer Eins? Eine solche Klarheit haben die wenigsten. Und damit auch keine Strategie.
Kunden zuhören, Basics reparieren. Kaum ein Unternehmen, das nicht von sich behauptet, kundenfreundlich oder gar kundenzentriert zu sein. Aber was weiß man jenseits von Zielgruppen-Slides und Personas-Postern wirklich über seine Kund:innen? Was nervt sie bei jedem Besuch, bei jeder Bestellung? Was ist so gut, dass es sich nie ändern darf? Welche Themen haben im letzten Monat im Kundenservice für Ärger gesorgt, und wer löst die Ursachen dahinter nachhaltig für alle anderen? Mit welchen Kund:innen machen Sie 80% des Ergebnisses? Wer sind die zehn Besten und was kaufen sie wann und warum am liebsten?
Je öfter man bei solchen Fragen mit den Schultern zucken muss, desto größer ist die Opportunität. Bitten Sie Ihre Kund:innen systematisch und an allen wichtigen Stellen im Prozess um Feedback. Vor allem dort, wo es weh tut. Sammeln Sie nicht nur Sterne für die Selbstdarstellung, sondern bitten Sie auch um freie Antworten. Werten Sie das Feedback kontinuierlich aus, reagieren Sie insbesondere auf jede mittelmäßige oder schlechte Bewertung mit einem Follow-Up, das von einer vertiefenden Klärung über einen Korrekturbericht bis hin zur Wiedergutmachung reicht.
Dafür gibt es Tools und Lösungen, zu hoher Aufwand ist kein Argument. Führen Sie ein Ticketsystem für alle kundenrelevanten Themen und Prozesse ein, damit Sie sehen, was nicht funktioniert und wie schnell die Ursachen behoben werden. Was zwischen den Teams per Email läuft, liegt im toten Winkel für Optimierung. Und: Füllen Sie mindestens 50 Prozent der Projekt-Roadmap für die nächsten zwölf Monate konsequent und kontinuierlich mit den Top 3‑Themen aus dem Kundenfeedback. Das ist so einfach wie es sich anhört. Macht aber kaum jemand.
Strategie statt Pläne. Strategie, das klingt abgedroschen und nach theoretischer Pflichtübung. Haben wir, ist doch alles klar. Wirklich? Eine Strategie definiert das Spielfeld und legt fest, wie man dort gegen die anderen gewinnen möchte. Konkret, spezifisch, handlungsorientiert. Welche Leistung, welches Angebot biete ich wie welchen Kundensegmenten in welchen Ländern, damit ich besser bin als die jeweilige aktuelle Nummer Eins? Eine solche Klarheit haben die wenigsten. Und damit eben auch keine hilfreiche Strategie.
Klingt profan? Schreiben Sie es spontan kurz auf, es wird Ihnen überraschend schwerfallen. Klingt zu groß, weil Sie nicht die Nummer Eins sein wollen? Um die führende Läuferin auch nur einzuholen, muss man schneller laufen als sie. Insofern wird auch etwas mehr Ehrgeiz nicht schaden. Expansion, Technologieeinführung, Marktplatz, Rebranding, neue Marketingkanäle oder die Optimierung all dessen sind übrigens Pläne zum Mitspielen, keine Strategie. Aber gut mitspielen wird auf Dauer für viele nicht reichen. Und gewinnen macht nicht nur Spaß.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com