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Nachhaltigkeit in der Mode? So wird das nichts!

Heute jährt sich der verheerende Einsturz des Rana Plaza-Gebäudes in Bangladesch zum neunten Mal. Über 1100 Menschen kamen damals ums Leben, mehr als 2400 wurden verletzt. Es war ein Weckruf für die globale Bekleidungsindustrie, ihre soziale Verantwortung in den Produktionsländern wahrzunehmen. Es passiert immer noch zu wenig, meint Lavinia Muth. Ein Umdenken wäre nötig.
Lavinia
Lavinia Muth

Es gibt nur wenige Branchen, die sich heutzutage so lautstark auf ihre Nachhaltigkeit berufen wie die Modeindustrie. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass es trotz viel beachteter Anstrengungen und Innovationsversuche in den letzten Jahren nicht wirklich gelungen ist, die negativen Auswirkungen auf Umwelt und Mensch systemisch zu verringern. Neue Materialstrategien wie die Verwendung biobasierter Materialien und Faser-zu-Faser-Recycling haben sich in der Breite noch nicht durchgesetzt. Auch Bekleidungs-Mietkonzepte sind vorerst gescheitert. Keine Marke der Welt ist bis heute in der Lage, einen existenzsichernden Lohn flächendeckend in ihren kompletten Lieferketten zu zahlen.

Seit Jahrzehnten kritisieren Umweltforscher*innen und Menschenrechtsaktivist*innen die negativen Effekte der globalen Produktion. Erst der katastrophale Einsturz des Rana Plaza-Gebäudes 2013 ließ die Öffentlichkeit aufwachen. Auf einmal wurde offen über die Missstände und Machtstrukturen von globalen Lieferketten gesprochen. Die Modeunternehmen reagierten, indem sie eine von Rettergeist angetriebene Nachhaltigkeit propagieren. Ein Heer von Nachhaltigkeitsberater*innen wurde angeheuert, um die Versäumnisse multinationaler Konzerne professionell zu rechtfertigen und zur Wohlfühlpropaganda beizutragen, indem sie die Öffentlichkeit davon überzeugten, dass sie vertrauenswürdig sind und Gutes tun, um weiter in Massen T‑Shirts und Jeans zu produzieren.

Wer hofft, dass die aktuellen Nachhaltigkeitsbestrebungen der Industrie die Klimakrise und andere große Herausforderungen der Gesellschaft erfolgreich bewältigen können: Das tun sie nicht. Es fühlt sich nicht nur wie eine Art persönliches und kollektives Versagen an, das ist es auch irgendwie. Ich weiß wovon ich rede. Die letzten zwölf Jahre war ich als Beraterin und Auditorin zu Umweltmaßnahmen und der Verbesserung von Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie tätig, zuletzt als Nachhaltigkeitsmanagerin bei ARMEDANGELS, einem Vorreiter in Sachen nachhaltige Mode. Dort durfte ich viele zukunftsweisende Projekte vorantreiben. 2021 bin ich ausgeschieden. Nicht weil ARMEDANGELS es nicht ernst meinte mit der Nachhaltigkeit, sondern aus Enttäuschung über den Fortschritt der Branche insgesamt.

Die Unternehmen tun so, als ob derjenige, der noch früher auf net-zero kommt (und sich aus dem Schlamassel von Negativ-Emissionen rauskauft), gewinnen wird und im Nachhaltigkeitsolymp landet.

Die Gründe dafür sind komplex. Der Druck zu unablässigem Wachstum in Verbindung mit der vermeintlichen Nachfrage der Verbraucher*innen nach billiger Mode und wechselnden Trends hat einen großen Anteil daran. Bis dato hat sich die Nachhaltigkeitswelt meiner Meinung nach auf kosmetische Reparaturen eines ungerechten Produktionsmodells konzentriert. Ein bisschen recycelte Fasern hier, eine soziale Spendenaktion da, und jedes Jahr ein schön aufbereiteter Nachhaltigkeitsbericht. Einige wenige Aktivitäten führen zu wirklicher Verbesserung der Produktionsbedingungen und weniger Ressourcenverbrauch. Die Mehrzahl der Nachhaltigkeits-Ökonomien wird immer noch von der Überzeugung angetrieben, dass es ohne Wachstum keinen Wohlstand geben kann. Zudem geht es auch hier wieder nur um schneller, besser, weiter, innovativer und nachhaltiger. Die Unternehmen werfen mit irren Nachhaltigkeitszielen um sich, und tun so als ob derjenige, der noch früher auf net-zero kommt (und sich aus dem Schlamassel von Negativ-Emissionen rauskauft), gewinnen wird und im Nachhaltigkeitsolymp landet.

Unter dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung wird versucht, Produktionsländer im globalen Süden am Wachstum der westlichen Industrie teilhaben zu lassen. Dabei wird sorgfältig darauf geachtet, das bestehende Abhängigkeitsverhältnis aufrecht zu erhalten. „Nachhaltige Entwicklung“ bedeutet selten Souveränität. Anstatt beispielsweise Preissysteme kollaborativ zu gestalten, um existenzsichernde Löhne zu zahlen, zahlen einzelne Marken lediglich die Lücke bis zum existenzsichernden Lohn und rühmen sich damit, es „besser“ zu machen oder „die Fairsten“ zu sein. Strukturell ändert sich dadurch nichts. Anstatt Rückverfolgbarkeit in Lieferketten dazu zu nutzen, diese resilienter zu gestalten, Produktionsvolumina zu bündeln, Transparenz in Löhnen zu schaffen, werden Bilder von „glücklichen“ Arbeiter*innen für Marketingkampagnen genutzt, die belegen sollen, dass man sich um sie kümmert. Letztlich hält eine solchermaßen verstandene Nachhaltigkeit die systemische Ungerechtigkeit aufrecht statt diese zu bekämpfen.

Nachhaltigkeitsfachleute und insbesondere Chief Sustainability Officers (CSOs) hätten eigentlich die Macht, den Einfluss, die Ressourcen und die Fähigkeit, Innovationen mit einer Ausrichtung auf mehr Gerechtigkeit anzugehen, auch in komplexen globalen Lieferketten. Stattdessen beansprucht die Nachhaltigkeitswelt das moralische hohe Ross. Es ist leider so, dass die Verhaltensmuster, die zu ungerechten globalisierten Systemen geführt haben, immer noch existieren. Es geht um Dominanz. Und nicht um tatsächliche Veränderung.

Bei Nachhaltigkeit sollte es um Transformation und echte Zusammenarbeit gehen, nicht um Dominanz oder darum, der oder die Nachhaltigste zu sein.

Leider neigt auch die Fachwelt dazu, eine wirkliche Veränderung zu blockieren: Wir befinden uns im Ausnahmezustand. Wir tun, was wir können. Wir müssen jetzt in unseren etablierten und funktionierenden Strukturen etwas tun. „Wir müssen einen Business Case kreieren und zeitgleich an unserem bestehenden Business festhalten.“ Gleichzeitig werden Alternativen für unrealistisch erklärt (Business-Modelle wie Kreislauffähigkeit, die Einnahmen von der Produktion und dem Ressourcenverbrauch entkoppeln, Postwachstumsökonomie etc.). Diejenigen, die die Macht, den Einfluss und die Ressourcen haben, um zu innovieren, hören nicht zu, begreifen nicht oder wollen nicht verstehen. Sie sind allenfalls damit beschäftigt zu retten, was auf dem Weg liegt, aber nicht mehr.

Ich denke nach den gescheiterten Bestrebungen Mode „nachhaltiger“ zu machen, ist es an der Zeit, umzudenken. Die Branche hat meiner Meinung nach immer noch die Chance zu zeigen, dass Kreativität und Respekt vor den planetarischen Grenzen und unseren Mitmenschen zu echter Nachhaltigkeit führen kann. Denn bei Nachhaltigkeit sollte es um Transformation und echte Zusammenarbeit gehen, nicht um Dominanz oder darum, der oder die Nachhaltigste zu sein. Transformation ist zugleich Provokation. Provokation gegen ein System, in dem alle miteinander konkurrieren, in der es nur ums Höher, Schneller, Weiter, Innovativer und Nachhaltiger geht und die unsere Lebensgrundlagen zerstört. Transformation ist aber auch ein Vorschlag. Ein Vorschlag für eine Umgestaltung der existierenden Machtstrukturen. Transformation könnte für die Mode eine systemkritische, emanzipatorische und inklusive Zukunft bedeuten.

Lavinia Muth arbeitet seit mehreren Jahren als Nachhaltigkeitsberaterin, zuletzt für ARMEDANGELS, eine der Pioniermarken für nachhaltige Mode. Sie bezeichnet sich selbst eher als Provokateurin in Sachen Nachhaltigkeit denn als Expertin, da sie hinterfragt, wie man sich als Expertin in einem Bereich bezeichnen kann, in dem die größte Herausforderung immer noch ist, die große Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen. Ihre Leidenschaft sind Menschen, sie glaubt an einen dekolonisierenden Ansatz und möchte daran arbeiten, gemeinsam Systeme zu transformieren.