Das Pop-Up-Fenster kommt unvermittelt und mitten in der gemütlichen Online-Shopping-Session auf dem Sofa. Gerade flimmerte da noch die neueste Kollektion für den Sommer 2027 des chinesischen Fastmode-Anbieters Shein über den Bildschirm. Jetzt prangt da ein großer Balken mitten über Kleidern, Shorts und Blusen. Geo-lokalisiert und alarmierend, als ob man sich einen bösen Computer-Virus eingefangen hätte, ist dort zu lesen: „Sorry! Dieser Shop ist in ihrem Land leider nicht verfügbar.“ Das war’s dann mit dem Online-Einkauf. Zur Konkurrenz zu klicken, bringt nichts. Dort ist es genauso.
An Bushaltestellen zeigen die Werbetafeln nun von der EU-finanzierte Plakate mit Bildern von textilen Müllbergen in Accra statt wohlgeformter Supermodels in den neuesten H&M‑Bikinis. Zahlreiche Modemagazine mussten eingestellt werden, als das Fast Fashion-Werbeverbot von Frankreich auf die ganze EU übertragen wurde und den Zeitschriften diese wichtige Einnahmequelle wegbrach. Social-Media-PR-Agenturen beginnen, Leute zu entlassen. Einige Influencer verkünden stolz, dass es jetzt trendy sei, eine kaufmännische oder handwerkliche Ausbildung zu machen.
Dafür verzeichnen Secondhand-Spezialisten wie Vinokilo neue Besucher-Rekorde. Fast-Fashion-Läden sind weniger geworden, aber es gibt sie noch. Dort hängt an jedem Kleidungsstück nun das neue Textil-Energielabel mit den bunten Balken von Grün über Gelb, Orange bis Rot, das wir alle seit Jahrzehnten von den Elektrogeräten kennen. Meist zeigt der Energieausweis-Zeiger der T‑Shirts, Jeans und Outdoor-Jacken auf die unteren beiden dunkelroten Balken. Das hat Konsequenzen auf den Preis. Bei einer schlechten Ökobilanz wird ein Aufschlag fällig.
Die beschriebene Szenerie ist reinste Fiktion. Aber sie könnte Realität werden. In ganz Europa regt sich Widerstand gegen Überproduktion, Überkonsum und die Müllberge voller Kleider. Und nicht nur da: Die starke Umweltbelastung durch Mode stand auch beim gerade abgeschlossenen G7-Gipfel in Turin auf der Agenda. Angeregt durch Frankreich, das sich seit geraumer Zeit als Vorreiter bei dieser Thematik positioniert. Bereits seit Januar 2022 ist dort das Vernichten von Neuware verboten. Im März 2024 hat ein Gesetzesantrag gegen Ultra-Fast Fashion die erste legislative Hürde in der Assemblée Nationale genommen. Es sieht
so aus, als dass dieses Gesetz auch die nächste Instanz mühelos schafft. In Deutschland mit seinem starken Datenschutz-Gesetzen versucht man dem unliebsamen chinesischen Billigprodukte-Anbieter Temu mit dem Vorwurf „manipulierter digitaler Kaufanreize“ einen Riegel vorzuschieben. In der Europäischen Union ist vor wenigen Wochen die Ökodesign-Richtlinie durchgewunken worden, kurz nachdem man sich nach Jahren der Diskussion endlich auf das Lieferkettengesetz geeinigt hatte. Ein europaweites Verbot gegen Greenwashing in der Werbung gibt es bereits seit letztem Jahr.
All dieses Regelwerk betrifft mehr oder minder stark die Textil- und Bekleidungsindustrie, aber vermehrt auch den Konsumenten. Nur hat der das noch nicht wirklich begriffen. Wie Lieschen Müller reagieren wird, wenn man ihr die Ultra-Fast Fashion wegnimmt, kann man nicht vorhersagen. Aber dass Verbraucher auf einen staatlich vorgeschriebenen Konsumverzicht mit Protest reagieren, ist durchaus möglich. Manchmal reicht ein kleiner Anlass bzw. eine lächerliche Einschränkung der persönlichen Freiheit mit dem hehren Ziel, den Planeten zu retten, um eine Protestbewegung auszulösen. Der Ursprung der Gelbwesten-Demos in Frankreich war ein Tempolimit von 90 auf 80 km/h auf Landstraßen, und wenig später schwappte eine Welle der Wut und Verwüstung durchs Land.
Die Frage ist: Brauchen wir wirklich diese ganzen Mode-Reglementierungen und Anti-Konsum-Gesetze? Bekommen wir es nicht selbst hin, weniger und besser zu shoppen, bzw. besser und mit weniger Überhang zu produzieren? Schafft es der Markt nicht selbst, sich zu mehr Nachhaltigkeit zu regulieren? Kurzum: Muss wirklich der Staat Verbraucher und Industrie mit Verboten und Gesetzen zur Vernunft bringen?
Die Konsumenten zeigen gerne mit dem Finger auf andere: Schuld sind die Fast Fashion-Hersteller, die Händler, die Werbetreibenden, die Influencer… Doch Fakt ist auch, das alle diese professionellen Akteure bereits seit längerem im Visier der Gesetzgeber sind. Für sie existieren bereits Auflagen, Einschränkungen und Regelungen. Die unbegrenzte Freiheit ist längst vorbei. Die Industrie weiß das und passt sich an. Spricht man mit Zara-Managern über den Klimawandel, bekommt man immer die gleiche Antwort: „Wir halten uns immer an die neueste Gesetzgebung und werden diese so schnell wie möglich in unseren Kollektionen umsetzen.“
Erstens ist der Vorwurf des Protektionismus nicht von der Hand zu weisen. Zweitens kostet die Umsetzung von Gesetzen Geld, was sich in höheren Preisen niederschlagen wird. Und drittens ist unsicher, ob allein mit Verteuerung auch wirklich der Überkonsum eingeschränkt werden kann.
Ganz so unnütz ist das Regelwerk also nicht. Alle Hersteller, die nicht wirklich was mit Nachhaltigkeit am Hut haben, werden dank Gesetz dazu verdonnert, besser zu produzieren, keine Unwahrheiten mehr über angeblich grüne Mode zu verbreiten, keine Lagerbestände mehr zu verbrennen etc. Wenn die unliebsame Billigkonkurrenz aus China wirklich teuerer oder sogar verboten wird, kann dies durchaus auch zum Vorteil für heimische Marken werden. Aber: Erstens ist der Vorwurf des Protektionismus nicht von der Hand zu weisen. Zweitens kostet die Umsetzung der Gesetze Geld, was sich in höheren Waren-Preisen niederschlagen wird. Und drittens ist unsicher, ob allein mit Verteuerung und Wegfall bestimmter Anbieter auch wirklich der Überkonsum eingeschränkt werden kann.
Werden irgendwelche Marken oder Verkaufsmethoden verboten, erfinden kreative Marketing-Manager eben Neues, um die Shopping-Leidenschaft der Kundschaft zu befriedigen. Ein gutes Beispiel ist das chinesische “3‑Second-Livestream-Selling”. Weltweit bekannt wurde es durch die Influencerin Zheng Xiang Xiang, die mit dem Verkauf billigster Massenware, die sie für exakt drei Sekunden in die Kamera hielt, in sieben Tagen angeblich über 12 Mio. Euro verdiente. Die hübsche Chinesin im kleinen Schwarzen öffnete mit rasender Geschwindigkeit und beneidenswerter Eleganz Kartons über Kartons in der Farbe des Luxus-Täschners Hermès, aus denen sie Polyester-Morgenmäntel, Acryl-Socken, Spitzen-BHs, Shampoos und sogar Regale wie auch Hocker zauberte. Das Geschäft florierte, bis der Social-Media-Kanal Douyin (die chinesische Version von Tiktok) Zheng Xiang Xiang im wahrsten Sinn des Wortes im November 2023 den Kanal abdrehte. Seitdem hat das 3‑Second-Livestream-Selling seine Frontfrau und damit seine Attraktivität verloren.
So was Verrücktes gibt es nur in China? Na, da wäre ich mir nicht so sicher. Neue Shopping-Trends und ‑Innovationen kommen und gehen, viele bleiben. Einkaufen war noch nie so einfach. Wir shoppen inzwischen in Sekunden auf Kredit (Klarna), erliegen Influencern und Algorithmen, die uns im Netz genau das zum Kauf anbieten, was wir zuletzt gegoogelt haben, brauchen nicht mal mehr einen Geldbeutel zum Einkauf, weil wir mit dem Handy zahlen, und lassen uns von den sogenannten „limited drops“ zu Spontankäufen hinreißen, weil wir kein Schnäppchen oder keine Designer-Capsule-Kollektion verpassen wollen (aktuell schon ausverkauft: Mango x Victoria Beckham, H&M x Rokh, Supreme x Maison Margiela).
Gerade geistert das „Doom Spending“ durch die Medien. Doom heißt übersetzt „Schicksal“ und kurz umrissen geht es darum, dass Millenials und GenZ so von den aktuellen Krisen in der Welt überfordert und verängstigt sind, dass sie sich ins Shopping retten. Einkaufen – und das wissen wir alle seit Jahrzehnten – ist kurzfristig gut für die Psyche, es werden Feelgood-Hormone wie Dopamine und Endorphine ausgeschüttet, die uns die Krisen vergessen lassen und unsere Laune heben. In den USA ist bereits ein Drittel der GenZ und fast die Hälfte der Millenials diesem Mechanismus erlegen. Dass dieses Einkaufsverhalten komplett dem selbst propagierten Umweltbewusstsein dieser Generationen zuwiderläuft, muss man gar nicht mehr erklären.
Wie sehr der Konsum unser Leben übernommen hat, hat auch Patagonia in einem PR-Film namens „The Shittropocene“ thematisiert. Ob dieser Film nun als Selbstkritik, Ironie oder Hypokrisie zu deuten ist, lasse ich dahingestellt. Fakt ist: Noch nie wurde mehr Kleidung geshoppt als jetzt. Mode war aber auch noch nie so billig und so überall und immer erhältlich wie jetzt. Gegen diese permanente Verführung standhaft zu bleiben, ist aus Sicht der Verbraucher nicht einfach. Manchmal braucht es dazu vielleicht dann doch eine Hilfestellung von außen. Regeln, Gesetze, Verbote – das ist vielleicht nicht sexy, aber eventuell doch notwendig. Wenn nicht zur Rettung des Planeten, dann doch zum Erhalt und der Förderung einer nachhaltigen und verantwortungsbewussten (und eventuell auch heimischen) Modeindustrie.