Ich möchte jetzt mal eine Lanze brechen für den in jüngster Zeit überall nur noch verschmähten und verlachten stationären Einzelhandel, also Boutiquen, Stores, Warenhäuser, Fachgeschäfte. Es ist gerade Mode, diese zu kritisieren und zu verhöhnen. Überall höre und lese ich, dass das ein aussterbendes Geschäftsmodell sei. Dass die Zukunft aus Sofa-Menschen bestehen wird, die im Trainingsanzug zu Hause hocken und sich durchs Internet klicken, um dann dort etwas zu bestellen, wo es am günstigsten ist. Der Postbote bringt es dann vor die Haustür – und holt es auch wieder ab, wenn’s nicht passt oder gefällt. Superbequem sei das. Onlinehandel sei die Zukunft, wird allerorts lauthals postuliert – klassische Läden hätten dagegen keine Chance.
Ich bin mir da nicht so sicher. Ich wünsche mir eine solche Welt nicht, die nur noch aus Showrooms und Handy-Boutiquen bestellt, wo man sich die Hardware zum virtuellen Einkaufsbummel beschafft. Und ich glaube, dass ich mit diesem Wunsch nicht alleine bin. Auf die Gefahr hin, als Dinosaurier verlacht zu werden, sage ich: Ich mag gute Läden, und ich gehe gerne in schöne Geschäfte. Das sinnliche, haptische, dreidimensionale und menschliche Erlebnis, das sich mir dort im besten Fall bietet, hat mir noch keine Web-Plattform bieten können. Läden sind emotionale und kulturelle Begegnungs- und Erlebnisräume. Gute Läden zumindest. Es gibt gewiss auch andere, die können von mir aus aber tatsächlich gerne verschwinden.
Willkommen in einer anderen Welt
Ein gutes Geschäft begrüßt und empfängt mich. Nicht servil und arschkriecherisch, sondern auf Augenhöhe. Im besten Falle kenne ich das Personal oder sogar den Inhaber, und ich mag diese Menschen, weil sie für etwas einstehen und eine Meinung haben. Sie wissen oder fühlen, ob ich beraten werden will oder nur ein bisschen stöbern möchte. Wenn ich sie frage, erzählen sie mir Geschichten und vermitteln mir Wissen. Während ich mich durch ein solches Geschäft treiben lasse, höre ich Musik, die mir gut tut oder mich interessiert. Es riecht angenehm. Ich fühle schöne Materialien, die zu entdecken mich reizen. Ich kann Dinge anfassen, drehen, ausprobieren. Ich sehe inspirierende Arrangements, Farbspiele, Silhouetten und bewege mich durch eine ansprechende Welt, die ein guter Ladenbesitzer wie ein schlauer Dramaturg aufgebaut hat. Oder wie ein gewiefter Kurator einer Galerie oder eines Museums.
Es geht nicht um elitäres Getue oder Luxus – das interessiert sogar Gutbetuchte heute nicht mehr. Es sind die emotionalen Momente, auf die es ankommt. Man bietet mir einen Kaffee oder ein Wasser an, ganz ohne Verpflichtung. Ich kann mich setzen und einfach ein bisschen schauen, wenn ich möchte. Und wenn ich etwas kaufe, bekomme ich es schön verpackt und mit einem warmen Dank ausgehändigt. Wenn ich das nächste Mal wiederkomme, überrascht mich mein Lieblingsladen wieder neu. Er fordert mich zum Denken heraus. Ein guter Laden schafft neue ästhetische Kontexte, die meinen Horizont erweitern und mein Wissen vertiefen. Aber er schreit mich nie an, ich solle jetzt etwas kaufen, weil es gerade extragünstig sei. Darauf reagiere ich schon lange nicht mehr. Der Preis allein ist mir kein ausreichender Kaufimpuls. Schlimmer noch: Es stößt mich ab, wenn Läden keine andere Argumente als Rabatte haben, um mich anzulocken. Viel mehr freut es mich, wenn mir ungefragt und als Belohnung für meine Treue mal ein Vorteil zuteil wird.
Ist Online so viel cooler?
Gegen all diese Faktoren des lebendigen, real existierenden Einzelhandels ist ein Online-Einkaufserlebnis auf dem Screen ein Witz. Ich gucke in ein Bildschirmchen und zoome ständig ein und aus. Ich bin nie sicher, ob etwas auch wirklich schön ist, oder nur gut fotografiert und präsentiert. Ich zappe herum, bin ständig abgelenkt, vergleiche auf anderen Seiten die Preise und Fotos. Am Schluss klicke ich irgendwo auf „kaufen“ und muss lange Zahlenreihen eintippen und Boxen anklicken. Und schwupp, schon ist wieder eine Stunde in einsamer Monotonie vor dem Laptop verbracht, wo ich sowieso schon viel zu viel Zeit verbringe. Schade. Sicher, wenn ich im Internet einkaufe, dann muss ich meine Tüten nicht nach Hause tragen. Das ist sicher ein praktischer Vorteil von Online-Stores. Dafür muss ich später eine Kartonkiste zum Entsorgungshof bringen. Ob das so viel cooler ist? Ich bemitleide diese Menschen mit ihren Zalando-Päckchen unter dem Arm irgendwie.
Natürlich bestelle auch ich gewisse Dinge des alltäglichen Bedarfs im Netz. Dinge, die ich kenne und nicht mehr ausprobieren muss. Sachen, deren Erwerb mir zwar keinen Spaß macht, die ich aber benötige. Kaffee, Papier, Druckerpatronen oder anderes Computerzeugs. Aber all das, was ich nicht unbedingt brauche, sondern haben will, kaufe ich lieber im Einzelhandel. Bei Profis, die etwas von ihrem Thema verstehen und sich für etwas einsetzen. Ich will auswählen können – nicht theoretisch, sondern tatsächlich. Ich will die Online-Händler keineswegs geringschätzen, aber: Das ist ein anderes Geschäft. Es geht um Lagerbewirtschaftung und Logistik, und das sind Dinge, die erst ab einer gewissen Größe überhaupt Ertrag abwerfen.
Erfolg ist ein hartes Brot
Ich weiß aus eigener Erfahrung und einigen mehr oder minder erfolgreichen Feldversuchen und Beteiligungen: Guter Einzelhandel ist eine Kunst für sich. Wir haben beileibe auch (noch) lange nicht alles richtig gemacht. Einzelhandel ist ein permanenter Lernprozess. Es braucht eine sehr subtile Abstimmung aller Faktoren, damit es klappt. Man braucht den richtigen Ort, ein stimmiges Sortiment, ein schönes Ambiente, schlaues Personal, eine durchdachte Kommunikation, treue Kunden und eine gute Portion Glück. Es ist alles andere als einfach, einen guten Laden zu führen. Und es wird immer schwieriger.
Ich ziehe meinen Hut vor all den Überzeugungstätern, die es trotzdem tun und damit ihre Städte bereichern. Ich habe eine Hochachtung vor den vielen Front-Mitarbeitern, die tagtäglich für diese Läden gerade stehen, weil ich weiß, wie hart und anspruchsvoll dieser Job ist – körperlich wie menschlich. Ich kann es auch verstehen, wenn manche dieser Tage der Geringschätzung müde sind. Verkäufer sollten viel, viel besser bezahlt sein, ihr gesellschaftlicher Status steht in keinem gesunden Verhältnis zu ihrer Entlohnung. Gute Verkäufer sind leider rar, doch die besten sind hart umworbene Spezialisten. Gute Verkäufer machen sich aber auch bezahlt, weil sie Identifikation schaffen und für Umsatz sorgen.
Ich bin überzeugt, dass selektives und bewußtes Einkaufen in meiner Stadt und/oder Region auch für mich, als Konsumenten oder „Endverbraucher“, wie die Deutschen es gerne so hässlich nennen, eine Bürgerpflicht ist. Shopping ist ein beliebtes Freizeitvergnügen, weil es sinnlich ist. Aber es ist auch ein kultureller Akt. Wer einkauft, tut etwas für sich, aber auch für seine Umgebung. Deswegen kaufe ich lokal ein. Im Inland. Einzelhandel ist Zivilisation und eine Investition in seine eigene Gesellschaft. Diese Errungenschaften sollten wir uns nicht einfach von einem anonymen Heer digitaler Raubritter kaputt machen lassen, die weder vernünftige, kultivierte Arbeitsplätze sichern noch etwas Substanzielles für unsere Städte tun, sondern mit ihrem unappetitlichen Verdrängungskampf nur für inflationären Daten- und Warenverkehr sorgen.
Jeroen van Rooijen (45) hat in Zürich Modedesign studiert und ist seit Mitte der 90er Jahre als Journalist tätig. Er arbeitet für internationale Titel und Magazine, am längsten (seit 2002) für die „Neue Zürcher Zeitung“. Ausserdem ist er Mitinhaber des Männermode-Geschäfts AP&CO in Zürich sowie des Pop-up Stores Cabinet.