Amazon ist so etwas wie das schwarze Loch im Universum des Einzelhandels. Es saugt Umsätze ab, die darin auf Nimmerwiedersehen verschwinden, und am Ende wird es alle Unternehmen absorbieren, die dem digitalen Riesen nichts entgegenzusetzen haben. So sieht's aus. Mit einer Mischung aus Faszination und Grusel schaut die Branche auf den Aufstieg des US-Online-Riesen. Oder sollte man besser Kraken sagen, so sehr wie das Unternehmen in immer neue Felder expandiert? Ohnmächtig nimmt man die Schlagzeilen zur Kenntnis, die Amazon praktisch täglich produziert. Ein kurzer Abriss der letzten beiden Wochen gefällig?
Amazon startet Echo in Deutschland. Amazon mit Locker-Offensive in Berlin. Amazon will Päckchen per Fallschirm abwerfen. Amazon erhält Patent für selbstlernende Packroboter. Amazon investiert Milliarden in Indien. Amazon mit 65 Millionen Prime-Mitgliedern. Amazon startet Videokonferenzsoftware. Amazon schielt auf Dessous. Amazon verkauft mehr Mode. Amazon eröffnet weitere Buchläden. Amazon bringt kleine Händler groß raus. In einem US-Medium wird sogar spekuliert, ob Amazon nicht Macys kaufen sollte. Überflüssig zu erwähnen, dass Amazon gerade zur wertvollsten Retail Brand der Welt gekürt wurde.
Es gibt wohl nichts, was man Amazon nicht zutraut. Während Otto Normalkrämer darüber grübelt, wie er die restliche Winterware los wird, ob er den Esprit-Shop nicht doch langsam mal abbauen sollte und wie er die Elternzeit der Erstverkäuferin überbrückt, testet Jeff Bezos Drohnenanlieferungen, baut eine eigene Flugzeugflotte auf und überlegt, ob fliegende Logistikzentren einen Mehrwert für die Kunden bieten. Nebenbei findet er noch Zeit, der Washington Post zu neuer Blüte zu verhelfen und den doofen Verlagen zu zeigen, wie man als Medium online Geld verdient.
Und in einer Woche, in der die meisten Textileinzelhändler in zu leere Kassen schauen, veröffentlicht der Online-Gigant Ergebnisse, die sich von allen Maßstäben abgekoppelt haben, die man von Einzelhandelsunternehmen kennt. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Amazon Wal-Mart als größten Retailer der Welt überholen wird. Das Unternehmen, obschon 22 Jahre alt, wächst nach wie vor wie ein Start-up: Allein in 2016 kamen 27 Prozent oder sagenhafte 29 Milliarden Dollar dazu. Global nahm Amazon im vergangenen Jahr 136 Milliarden Dollar ein. Davon entfallen fast 13 Milliarden auf Deutschland. So viel wie der gesamte deutsche Schuheinzelhandel umsetzt. Die Amerikaner sind damit hierzulande drei Mal so groß wie Zalando in ganz Europa. Die Nettoumsatzrendite ist mit 1,7 Prozent zwar vergleichsweise mickrig, aber hey – das sind fast 2,4 Milliarden Dollar! Das ist weit mehr als die P&C West-Gruppe inklusive Wien Umsatz macht. Amazon hat seinen Gewinn damit in einem Jahr vervierfacht. Aber das ist nicht wirklich wichtig, denn für Amazon-Gründer Jeff Bezos kommt es in erster Linie auf den Cash Flow an, mit dem er seine Wachstumspläne finanzieren kann.
Bezos‘ Ziel ist es, mit Amazon das kundenzentrierteste Unternehmen der Welt zu werden. Nun ist das eine Floskel, die heutzutage jeder CEO raushaut, wenn man ihn nachts weckt. Bei Amazon meint man das tatsächlich ernst. Es ist die Geschäftsgrundlage. Das Unternehmen positioniert sich als Schleusenwärter, der den Zugang zu den Konsumenten kontrollieren möchte. Das geht nur, wenn man sich in gewisser Weise unentbehrlich macht. Amazon schafft dies durch maximale Angebotsbreite und extreme Verfügbarkeit, durch jederzeit konkurrenzfähige Preise sowie operative Exzellenz – angefangen bei der Usability der Website, die ein leichtes und bequemes Einkaufen ermöglicht, bis hin zum Fulfillment, also der schnellen und zuverlässigen Lieferung. „Same Day Delivery“ ist eben auch ein Einkaufserlebnis, und was für eines. Die riesige Resonanz, die das Amazon Prime-Abo hat, zeigt, wie gut Amazon die Kundenbindung heute schon gelingt. Während andere Einzelhändler Prozente oder Bonuspunkte bieten müssen, damit ihnen die Kunden ihre Loyalty Cards abnehmen, sind diese bei Amazon sogar bereit, dafür zu bezahlen.
Langfristig will Amazon zum Synonym fürs Einkaufen im Internet werden. Und zur Infrastruktur fürs Verkaufen. Die für traditionelle Einzelhandelsgeschäfte charakteristische Funktion der Selektion ist in den unendlichen Weiten des Webs keine Notwendigkeit. Stattdessen zielt Amazon darauf ab, ein Kaufhaus zu sein, das alles für jeden bietet. Algorithmen übernehmen den individuellen Angebotszuschnitt auf Basis der Kundenpräferenzen. Dabei spielt zunächst keine Rolle, ob Amazon das Geschäft selbst macht oder als Marktplatzanbieter für andere fungiert. Darauf zielt der von Bezos betriebene Ausbau von Dienstleistungen ab, angefangen von den Cloud Services (die heute bereits über 12 Milliarden zum Umsatz und vor allem über 3 Milliarden zum Ertrag beitragen) über Finanzdienstleistungen bis hin zur Logistik. Die Provisionen der Third Party Seller tragen heute bereits fast 6,4 Milliarden Dollar und mit aktuell 17 Prozent einen überdurchschnittlich wachsenden Anteil zum Amazon-Business bei.
Amazons Anstrengungen, auch für das Modebusiness attraktiv zu werden, ist nicht etwa auf Jeff Bezos‘ plötzlich entdeckte Vorliebe für schöne Kleider oder gar den Einfluss seiner Ehefrau zurückzuführen. Amazon kann auf seinem Weg, zur globalen Shopping Destination Nummer 1 zu werden, den riesigen Bekleidungsmarkt schlicht nicht ignorieren. Deshalb baut das Unternehmen sein Textilangebot massiv aus. Nach einer aktuellen US-Studie wuchs dieser Sortimentsbereich in den vergangenen beiden Jahren von 2,5 auf fast 7,5 Millionen Produkte. Hunderte neuer Marken wurden aufgenommen und eine ganze Reihe von Eigenmarken gelauncht. 2016 wurden in Europa nach eigenen Angaben über 60 Millionen Artikel verkauft. Zudem investiert Amazon massiv in die modische Positionierung, betreibt mit Zappos, Shopbop oder endless.com weitere Webshops, sponsort die Modewochen in New York, Indien und Tokyo, macht Fernsehwerbung und beschäftigt Influencer wie Chiara Ferragni als Markenbotschafterinnen. In London eröffnete vorletztes Jahr ein riesiges Fotostudio, die Einkaufsteams wurden personell massiv verstärkt und die Industrie nach Kräften umworben.
Die Modeleute beruhigen sich immer noch mit dem fehlenden Fashion-Appeal der Amazon-Website. Abgesehen davon, dass nicht wenige stationäre Läden hier ebenso Nachholbedarf haben, dürfte dieses Defizit zu beseitigen Amazon leichter fallen, als den Mitbewerbern es gelingen wird, die operative Exzellenz des Online-Giganten zu erreichen. Amazon kann es sich im Übrigen leisten, die trendige Spitze des Marktes zu ignorieren, mit der sich die Modeleute gerne leidenschaftlich beschäftigen. Die 80 Prozent Basic-Umsätze sind mehr als genug. Die Industrie hat berechtigte Angst, in Abhängigkeit zu einem so gewaltigen Großkunden zu geraten, auf dessen partnerschaftliches Geschäftsgebaren man nicht vertraut. Dass Jeff Bezos sein Start-up vor über 20 Jahren mal "relentless" (gnadenlos) taufen wollte, spricht Bände. Zalando hat das erkannt und positioniert sich in seiner Plattformstrategie als der gute Partner der Marken.
Die Premium-Brands scheuen das preisaggressive Umfeld. Alle zusammen haben Angst, dass sie mit einer Zusammenarbeit nur einem gewaltigen Mitbewerber aufs Pferd helfen, der seine Kundenkontakte und Abverkaufsdaten am Ende für ein Eigenmarkengeschäft nutzen wird, gegen das McNeal und Christian Berg Peanuts sind. Amazon ist ein harter Konkurrent, nicht zuletzt weil er sich dank seiner Skalenvorteile leisten kann, niedriger zu kalkulieren. Anders als klassischen (stationären) Händlern geht es dem Online Retailer nicht darum, die Marge für jeden einzelnen Artikel zu maximieren, sondern die viel wichtigere Messgröße ist der Cashflow. Amazon muss nicht wie andere Händler mit Eingangskalkulationen rechnen, die dann über Abschriften der tatsächlichen Nachfrage angepasst werden, sondern kann die Preiselastizität permanent austesten und seine Preise risikominimierend und Cashflow-maximierend in Echtzeit dynamisch anpassen.
So ist davon auszugehen, dass die Wachstumsstory von Amazon weitergehen wird. Mit stetigen Innovationen wird das Unternehmen uns immer wieder kirre machen. Es ist derzeit niemand zu erkennen, der sich Amazon global in den Weg stellen könnte. Am ehesten wären dazu Google oder Facebook in der Lage, die ähnliche Plattform-Philosophien verfolgen, ihr Geld zurzeit aber noch mit Werbung machen. Oder Alibaba mit seinem riesigen Heimatmarkt und entsprechenden Kapitalreserven. In Deutschland sieht man wahrscheinlich am klarsten noch bei der Otto Group, wohin die Reise geht. Welche Antwort die Hamburger finden, wird man sehen. Und Zalando wächst zwar schnell, hat mit seinem 3,6 Milliarden-Umsatz aber erst ein Vierzigstel der Größe von Amazon erreicht. Die Amerikaner haben darüber hinaus 15 Jahre Vorsprung in der Entwicklung von Prozessen und Technologien und wachsen immer noch genauso schnell wie die Berliner.
Die großen Filialketten suchen derweil ihr Heil in Omnichannel. Das Konzept ist den Nachweis einer profitablen Alternative bislang schuldig geblieben. Denn mehr Kanäle bedeuten zunächst mal mehr Komplexität und höhere Kosten. Das macht die Omnichannel-Idee aber grundsätzlich nicht falsch. Wenn es im Einzelhandel der Zukunft auf den Zugang zum Kunden ankommt, dann sind die stationären Händler mit ihren bestehenden Kundenbeziehungen jedenfalls in keiner schlechten Ausgangsposition. Die Herausforderung ist es, das Leistungsversprechen auf allen Kanälen mit derselben operativen Exzellenz zu erfüllen. Das ist stationär schon schwer genug. Und Online setzt Amazon den Standard.
Natürlich wird es nicht so kommen, dass ein einziger Anbieter demnächst das komplette Bekleidungsgeschäft kontrolliert. Dazu ist dieser Markt viel zu quirlig, kreativ und dynamisch. Aber es wächst mit Amazon ein Mitbewerber heran, den es so noch nicht gegeben hat. Besonders gefährdet ist wohl, wer sich im Massenmarkt mit austauschbaren Sortimenten über breite Auswahl als Grundversorger positioniert. Auf diesem Feld gibt es nichts, was ein Amazon nicht besser kann. Natürlich kann eine Strategie darin bestehen, sich auf die 20 Prozent des Marktes zu konzentrieren, die Amazon (bislang) links liegen lässt und sein modisches Profil zu schärfen. Vielleicht sind es auch nur 10 Prozent. Schneller zu sein und Trends zu setzen, wird mit Sicherheit auch in Zukunft ein Erfolgsrezept sein.
Eine andere Strategie ist es, Marken mit hoher Begehrlichkeit aufzubauen, deren Markenimage und Distribution zu 100 Prozent in der eigenen Hand liegen. Wobei eine hundertprozentige Kontrolle selbst für solche geschlossenen (vertikalen) Systeme heute nur noch schwer möglich ist. Wer „Louis Vuitton“ ins Amazon-Suchfeld eingibt, erhält über 8000 Vorschläge – was auch immer das für Ware ist, denn Louis Vuitton arbeitet mit Amazon erklärtermaßen nicht zusammen.
Markenanbieter (und auch Retail Brands wie H&M und Zara) müssen im Übrigen genau überlegen, inwieweit sie die frequenzstarken Plattformen und die Fulfillment-Infrastruktur für ihr Geschäft nutzen können. Das hätte Jeff Bezos natürlich gerne, und die ganze Service-Infrastruktur, die Amazon aufbaut, zielt darauf ab, sich als Vertriebspartner unentbehrlich zu machen. Dies zu nutzen, muss dennoch nicht falsch sein. Handel und Industrie zahlen schließlich auch Miete an die ECE.