Die #PayYourWorkers-Kampagne, die diese Woche startet, lenkt den Blick auf die Folgen der Corona-Krise für die Produktionsländer. Und die sind heftig. Nachdem das Virus den stationären Einzelhandel in vielen Märkten zur Vollbremsung gezwungen hat, leidet die sogenannte textile Pipeline unter akuter Verstopfung. Es ist so viel Ware am Markt, dass – zumindest theoretisch – erstmal keine neue mehr produziert werden müsste. Das passiert natürlich nicht, aber Handel und Industrie haben ihre Orders in Asien massiv reduziert. Entsprechend werden die Kapazitäten in der Produktion runtergefahren.
Während die Beschäftigten hierzulande über Kurzarbeit etc. abgesichert sind, fallen die Näherinnen und Textilarbeiter in Bangladesch oder Indonesien ins Bodenlose. Dort machen die Besitzer ihre Fabriken einfach zu, und die Menschen, die schon bei Vollbeschäftigung in prekären Verhältnissen leben, stehen jetzt häufig ohne jedes Einkommen da. Die #PayYourWorkers-Kampagne, an der rund 200 NGOs und Gewerkschaften aus 37 Ländern beteiligt sind, fordert deshalb nun, dass Retailer und Brands Lohnfortzahlungsgarantien geben und einen Garantiefonds für Abfindungszahlungen einrichten.
Diese Forderung erzielt Wirkung vor dem Hintergrund der jüngsten Bilanzveröffentlichungen von Modeunternehmen, insofern haben die Initiatoren ihre Kampagne clever getimt. Die Global Player in unserer Industrie haben – soweit sie stationär unterwegs sind – 2020 zwar allesamt massiv weniger verdient. Aber unter dem Strich stehen immer noch ordentliche Summen, jedenfalls aus Sicht von Lieschen Müller: H&M verdiente im Corona-Jahr 123 Millionen, Primark 362 Millionen, Adidas 429 Millionen, Inditex 1,5 Milliarden. Zalando hat sein EBIT sogar auf 429 Millionen Euro verdoppelt. Was für Gewerkschafter nur auf dem Rücken der Belegschaften zustande gekommen sein kann, honorieren die Anleger: Der TW-Modeaktienindex legte in der vergangenen Woche mit 6,9% im Vergleich zum DAX weit überdurchschnittlich zu.
Natürlich zeigt sich in der Krise ganz besonders, was von den CSR-Beteuerungen der Industrie zu halten ist. Man darf sich da nichts vormachen: Wo es existenziell wird, ist sich jeder selbst der Nächste und Asien erstmal weit weg. Wenn das Geschäft zusammenbricht, Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten, Vermieter Mieten und Shareholder Value wollen, dann stehen Sustainability und Social Responsibility in den Produktionsländern auf der Prioritätenliste bestimmt nicht ganz oben. Auch wenn anderes behauptet wird. Sich nach dem Militärputsch aus Myanmar zurückzuziehen, ist in der aktuellen Situation jedenfalls keine Entscheidung, die besonders weh tut. Und wenn Modeunternehmen Nachhaltigkeitsanleihen begeben, dann hat das weniger mit Gutmenschentum zu tun als mit cleverer Finanzierung von in der Regel bereits verabschiedeten Vorhaben. Selbst ein Lieferkettengesetz kann man öffentlichkeitswirksam begrüßen, wenn die Lieferkette kaum ausgelastet ist.
Und so wird auch bei #PayYourWorkers der Schwarze Peter letztlich weitergereicht werden. Die NGOs sehen die Verantwortung zur Beseitigung von sozialen Missständen bei den Modemarken. Die Modemarken verweisen auf die lokalen Fabrikanten, die für die angemessene Entlohnung sorgen müssen. Die Fabrikanten können sich hinter den Politikern verstecken, die die Gesetze machen. Und alle zusammen können mit dem Finger auf die Konsumenten zeigen, die bei ihrer Jagd nach Schnäppchen Menschenleben in der Dritten Welt buchstäblich in Kauf nehmen.
Das Problem ist: Alle zusammen sind verantwortlich. Und wer aus dem System ausschert, zahlt drauf. Das können sich die allerwenigsten leisten.
Die Corona-Krise wird die wirtschaftlichen Zwänge eher noch verstärken. Kann schon sein, dass die unfreiwillige Kaufpause bei manchem Verbraucher den Sinn für Nachhaltigkeit und bewussteren Konsum geschärft hat. Was für die auf Massenproduktion ausgerichteten Fabriken in Bangladesch oder Pakistan auch keine gute Nachricht wäre. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist das Gegenteil, und das nicht nur, weil die Arbeitslosigkeit hierzulande steigen und die Konsumausgaben damit womöglich sinken werden.
Auch der Online-Shift wird Folgen haben. Wer Corona zynisch als überfällige Katharsis eines verkommenen Systems begrüßt, übersieht, dass die aktuellen Marktanteilsgewinne der Online Player am Ende zu mehr Wettbewerb und Preisdruck führen werden. Der daraus resultierende Kostendruck wird sich auch auf die Beschaffung auswirken. Das ist ein Grund, weshalb viele Unternehmen massiv in die Digitalisierung ihrer Order- und Produktentwicklungs-Prozesse investieren. Das wird die Supply Chain ohne Zweifel effizienter machen. Aber es wird eher zum Abbau von Arbeitsplätzen führen als zu höheren Löhnen in der Produktion.