Es ist Fashion Revolution Week. Wer hat’s auf dem Schirm? Allenfalls die Häufung von Bekanntmachungen verweist darauf, dass das Thema Nachhaltigkeit in dieser Woche irgendwie auf der Agenda steht. PR ist immer auch eine Frage des Timings.
So verkündet Hessnatur die Ausschreibung eines „Innovations for Tomorrow Award“, der innovative und nachhaltige Produkte, Ideen und Startup-Geschäftsmodelle auszeichnen soll. Daneben launchen die Butzbacher mit „More Tomorrow“ eine erste gemeinsame Kollektion mit About You. Otto bringt eine zirkuläre, ressourcenschonende Modekollektion aus komplett abbau- und recyclebaren Materialien in den Verkauf. Puma testet biologisch abbaubare Suede-Sneaker. Hugo Boss steigt ins Resale-Business ein. In Frankreich gründet sich die Fédération de la Mode Circulaire, ein Unternehmerverband, der die Kreislaufwirtschaft fördern will. Mango schafft es diese Woche sogar, eine Kreditaufnahme zur offenkundig notwendig gewordenen Refinanzierung des Unternehmens als nachhaltige Maßnahme zu verkaufen; die Rückzahlung von 50 der 200 Millionen Euro Neuverschuldung ist an ESG-Kriterien gekoppelt.
Und Crocs hat gerade eine neue VP Global Head of Sustainability eingestellt, die laut CEO Andrew Rees dafür sorgen soll, dass man den Kauf der Plastikschuhe künftig mit einem höheren Zweck verbindet: „Als Marke, die jeden dazu einlädt, sich in seinen eigenen Schuhen wohlzufühlen, tragen wir die gleiche Verantwortung dafür, dass wir unseren Teil dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, in der man sich wohlfühlt.“ Eine Wellnesswelt als Purpose eines Kunststoffverarbeiters – so geht das mit der Nachhaltigkeitskommunikation.
Doch zurück zum Thema. Am kommenden Sonntag jährt sich die Katastrophe von Rana Plaza zum neunten Mal. Die Fashion Revolution Week soll an dieses 9/11 der Modeindustrie erinnern; mit weltweiten Aktionstagen und Kampagnen prangern Aktivisten seither Missstände in der globalen Textilproduktion an.
In diesem Jahr erscheint dieser Protest leiser. Die Alarmglocken werden vom Kanonendonner in der Ukraine übertönt. Der Krieg hat andere Themen auf die Agenda gesetzt. Das musste zuallererst die Politik erfahren. Die Ziele und Vorhaben, derentwegen die neue Regierung gewählt wurde, scheinen vorerst zweitrangig geworden. Statt um die Bewältigung des Klimawandels, um digitale Transformation oder um die üblichen sozialen Verteilungskämpfe geht es um Frieden, Verteidigung und Versorgungssicherheit. Der grüne Wirtschaftsminister muss den Bückling vor den Öl-Scheichs machen. In den Talkshows haben Generäle den Platz von Luisa Neubauer eingenommen. Und die Ostermärsche erschienen einem angesichts der russischen Bedrohung wie ein Wandertag von Weltfremden. Der Eskapismus von Coachella ist da deutlich sexier… okay, das war jetzt ein fieser Vergleich.
Noch taugt Sustainability für Marken zur Profilierung. Künftig wird Nachhaltigkeit zum Hygienefaktor, zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Auch die Unternehmen haben zurzeit andere Prioritäten. Nach zwei Pandemie-Jahren haben Handel und Industrie sich auf ein Frühjahrsgeschäft in Freiheit eingestellt, das die vielfach existenzgefährdenden Corona-Verluste lindern sollte. Stattdessen müssen jetzt neue Lieferkettenprobleme gemanagt und nie dagewesene Kostensteigerungen verarbeitet werden. Nicht nur die Ukraine und Russland fallen als Absatz‑, Liefer- und Transitländer aus, auch der Lockdown in Shanghai trifft die Supply Chain. Zu alledem steht zu befürchten, dass die steigenden Lebenshaltungskosten und das verlangsamte Wirtschaftswachstum die Ausgabebereitschaft und Kauflaune der Verbraucher drücken wird. Das Konsumbarometer des HDE fiel im April den fünften Monat in Folge und liegt aktuell auf einem Allzeittief.
All das lässt Sustainability als Luxusthema für bessere Zeiten dastehen. Das ist es natürlich genauso wenig wie der Klimawandel ein Schönwetterthema ist. Es wird früher oder später mit Macht auf die Tagesordnung zurückdrängen. Man ist deswegen gut beraten, in seinen Bemühungen nicht nachzulassen. Aspekte wie eine nachfragegerechtere Planung zur Vermeidung von Überproduktion sind nicht zuletzt im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmen. Für mehr Transparenz wird ohnehin der Gesetzgeber sorgen. Aber auch ohne Lieferkettengesetz wird es soziale Mindeststandards und ökologische Verträglichkeit brauchen. Das wird der Markt immer mehr verlangen. Noch taugt das Thema für Marken zur Profilierung (siehe oben). Künftig wird Nachhaltigkeit zum Hygienefaktor, zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Der Erfolg eines Shooting Stars wie Shein taugt nicht als Gegenargument. Natürlich wollen Konsumenten günstige Preise. Aber niemand mag ein schlechtes Gewissen beim Kauf haben. Immer mehr Menschen werden darauf vertrauen können wollen, dass Produkte “sauber” sind und alles mit rechten Dingen zugeht. Marken, die Mindeststandards nicht einhalten, werden sozial nicht mehr akzeptiert sein. Und ohne soziale Akzeptanz gibt es keine Mode.