Wenn wir über Berliner Mode sprechen, haben wir es mit fünf unterschiedlichen Welten zu tun, zwischen denen es kaum Berührungspunkte gibt.
Neben „den“ Berliner Designern wie Esther Perbandt, Firma, Kaviar Gauche, Michael Sontag oder Perret Schaad – um nur einige von über 120 Namen zu nennen – gibt es die Coolen, eine Clicque rund um das Magazin 032c und der PR-Agentur Reference mit Labels wie GmbH, Ximon Lee, Stefano Pilati oder Ottolinger. Sie leben und arbeiten in Berlin, vermeiden aber fast jede Verbindung zur Fashion Week.
Drittens gibt es Konzerne wie Zalando oder MCM. Sie sind wichtige Arbeitgeber, sie bringen sich aber kaum in die Stadt ein. Ganz anders als frühere Unternehmer wie Klaus Steilmann im Ruhrgebiet, Michael Otto in Hamburg oder englische Marken wie Top Shop, die wichtige Sponsoren der Londoner Graduate Fashion Week waren und den Baum nährten, deren Früchte sie brauchten.
Viertens gibt es die Unsichtbaren. In fast allen internationalen Modehäusern arbeiten Deutsche, oft in Führungspositionen, viele studierten in Berlin oder leben hier. Ein Beispiel ist Joel Horwitz, der nach dem Studium an der Universität der Künste Berlin zu Adidas ging und heute Design Director von Fila Europe ist. Auch die meisten Preisträger des European Fashion Award FASH arbeiten im Hintergrund in Unternehmen wie Adidas, AlphaTauri, Gucci, Hugo Boss, S.Oliver und für Designer wie Dries van Noten oder Vivienne Westwood.
Und dann gibt es fünftens noch die deutsche Bekleidungsindustrie. Sie ist mit Berlin seit dem 2. Weltkrieg nie mehr richtig warm geworden. Es gab nach dem Mauerfall Versuche, die Modestadt Berlin wiederzubeleben. So veranstaltete die Düsseldorfer Igedo Company von März 1991 bis August 1994 die Messe „Moda Berlin“ die trotz Millionenunterstützung durch den Senat kläglich scheiterte.
In den Nullerjahren erlebte die Messestadt mit Bread & Butter und Premium einen kurzen, steilen Aufstieg. Berlin war von 2009 bis 2013 einer der wichtigsten Termine im Kalender der Einkäufer, weil hier das Bild einer neuen Zeit sichtbar und spürbar wurde und die Messen ein starkes kommerzielles Fundament hatten – etwas, was in dieser Form weder in Paris noch in Mailand vorhanden war. Dieser Aufschwung war allerdings nicht von Dauer. Da die Modeszene in Berlin aus mehreren Parallelwelten besteht, die kaum miteinander in Kontakt stehen und die bislang niemand einen konnte, entwickelte sie wenig Kraft. Spätestens seit 2018 sind die Besucherzahlen spürbar eingebrochen, die Pandemie tat das Übrige. Kommerziell ist die Stadt heute nicht mehr wirklich relevant. Auch die Fashion Week dürfte bis auf weiteres eine lokale Plattform bleiben.
Nach West-Berlin kam, wer nicht so sein wollte, wie seine Eltern. Sie probierten Alles aus und schrien ihren Weltschmerz heraus: Macht kaputt, was euch kaputt macht.
Eine wichtige Rolle spielt Berlin allerdings nach wie vor als Ort der Inspiration. Das war es schon vor dem Mauerfall. Hier lebten die „cool kids“ der Republik: Nach West-Berlin kam, wer nicht so sein wollte, wie seine Eltern. Sie probierten Alles aus und schrien ihren Weltschmerz heraus: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Zudem keimte die heutige Vielfalt auf: Zu den Alternativen kamen die Besatzungstruppen, die internationale Szene der Kulturschaffenden und Arbeitsemigranten vor allem aus der Türkei.
Beeinflusst von einer neuen Generation englischer Modemagazine wie ;-D setze die Jugend dem „mordslangweiligen Mode-Kommerz“ revolutionären Hedonismus entgegen. Mode war nicht mehr Eleganz, Mode war jetzt Event. Hier trafen sich Trend und Trash, wurden in Performances neue Präsentationsformen ausprobiert. Mode wurde immer mehr ein bewusstes Mittel der Kommunikation, der Abgrenzung und Einordnung. Anschaulich zu sehen war dies 2021 in der Ausstellung über Claudia Skoda in der Kunstbibliothek.
Scheitern gehörte zum guten Ton. Das Nicht-Können und der Widerstand gegen Konventionen sollten den Weg öffnen zu einer ungebremsten Kraft des Ausdrucks. Kommerziell war nicht nur in Berlin ein schlimmes Schimpfwort. So sagte Fionett Bennett einst: „Wenn Mode sich als gut verkäuflich erwies, interessierte sie mich nicht mehr.“ Diese Haltung blieb und prägt Teile der Berliner Modeszene bis heute.
Mitte der Achziger Jahre war die Energie allerdings weg. Bis die Ostdeutschen die Mauer zu Fall brachten und sich alles änderte. Techno wurde der Sound der Wende. Es entstand eine Energie und die Freiheit sich so zu fühlen, wie man wollte, sich auszuprobieren und einfach sein Leben zu genießen. Die Love Parade öffnete breiten Massen die Freiheit, ihren Stil zu leben. Es entstand nicht nur ein Netzwerk aus Clubs, Plattenläden und ‑labels und Zeitschriften, sondern auch neue Kunst, eine eigene visuelle Sprache und Mode. „Keine andere Musik hat Mode in Deutschland so verändert wie Techno“, schreibt Cathy Boom in einem der wenigen Artikel zur Clubwear.
Gender-Fluidität war in Berlin immer ein Thema. In einer Gemeinschaft, der es egal war, ob man schwul, klein, dick, dünn, schwarz oder weiß war, war auch der Kleidungsstil egal.
Diese Berliner Mode entstand in den Clubs, nicht auf dem Catwalk. Dabei gab es kaum Regeln. Clubwear verband Stilelemente aus bisherigen Jugendkulturen und viele Einfüsse aus London. Ab etwa 1992/93 gab es kommerzielle Angebote. Die wenigsten der über 70 Anbieter kamen aus der Textilbranche, sondern aus der Szene. Wichtige Namen waren u.a. 3000, Børding, Next GURU Now, Sabotage oder W<.
Gender-Fluidität war dabei von Anfang an ein Thema. In einer Gemeinschaft, der es egal war, ob man schwul, klein, dick, dünn, schwarz oder weiß war, war auch der Kleidungsstil egal. Gerade die Kids aus dem Osten nutzten ihre neuen Freiheiten. Man wollte tanzen – oft tagelang – daher war der Look meist funktional bis sportlich. Langsam bildeten sich einzelne Looks heraus, die teils bis heute prägend sind.
Es entstanden viele Stile wie DIY, Science-Fiction, Grunge, der Berghain-Minimalismus oder Sport Vintage – auf den Adidas erst 1997 mit Originals reagierte. Kommerziell am bedeutensten waren Camouflage und der figurbetonte Girlie-Look, der eine Dekade des Slim-Fits einläutete. Sie alle sind heute selbstverständlicher Teil der Alltagskleidung.
Clubwear war eine wichtige Quelle für die Streetwear, die heute die globale Mode dominiert.
Mit Techno wurde experimentiert, was eine queere, aufgeschlossene und grenzenlose Party bedeuten kann, und es entstanden vorurteilsfreie Orte, an denen kaum eine Begierde unerfüllt blieb. Erst mythenumrankte Fetischpartys, dann sexpositive Partys mit ihrem speziellen Outfits von Lack und Leder bis zum Total-Nude-Look. Diese Outfits sind in vielen Bühnenshows und Videos von Popstars zu sehen. Heute tragen 13-jährige in Begleitung ihrer Großeltern Sport-BHs und Super-Mini-Hotpants auf dem Ku’damm. Der Körper wurde wichtiger als die Kleidung, wie auch der Tattoo-Boom zeigt. Seit dem Ende der 80er Jahre sind sie gesellschaftsfähig geworden und heute in praktisch allen Gruppen der Gesellschaft zu sehen. Jede vierte Person in Deutschland soll ein Tattoo tragen.
Clubwear war zugleich eine wichtige Quelle für die Streetwear, die heute die globale Mode dominiert. Auch hier spielte Berlin eine relevante Rolle. Adidas, Puma & Co müssten von ihren Milliardenumsätzen eigentlich Lizenzgebühren an die Berliner Szene zahlen.
Streetwear wurde nicht zuletzt für die High Fashion immer bedeutsamer. Früh war dies schon bei Helmut Lang, Jean-Paul Gaultier, Margiela, Prada oder Versace zu sehen, die Details der 90er Clubwear mit temporären Modestyles und Materialien kombinierten.
Demna, der einigen als derzeit wichtigster Designer gilt, machte mit seiner „Streetwear-Revolution“ das alte Unten zum neuen Oben. Erst bei Vetements, dann bei Balenciaga. Er arbeitet mit vielen Kreativen aus Berlin und sagt, dass Berlin seine Liebe zur Mode geprägt hat. Seine Schau in der New Yorker Börse wirkte wie dem Berghain entsprungen.
Andere wichtige Marken sind GmbH, Bottega Veneta und natürlich Virgil Abloh, zunächst mit Off-White und dann Louis Vuitton. Sie alle zeigen – zusammen mit vielen Epigonen – im Grunde den Look der Berliner Technoszene, meist zu absurd überhöhten Preisen. So wie Paris für Couture und Mailand für Menswear stehen, steht Berlin als Capital of Casual für ein neues Zeitalter.
In Deutschland nahmen viele Modeprofis Clubwear jedoch kaum zur Kenntnis, sei es die deutsche Bekleidungsindustrie oder Medien wie die Vogue oder GQ. Clubwear war ein Teil der Young Fashion, also nicht wirklich ernst zu nehmen. Die jungen Leute würden schon bald vernünftig werden und „richtige“ Mode kaufen. Stattdessen gingen sie ihren eigenen Weg.
Viele haben viel zu spät verstanden, was die Kunden bewegte. Da ist bei der etablierten DOB-Marke im Kopf womöglich das Bild der alten Dame, dabei kann die heutige Kundin durchaus auf der Love Parade gewesen sein.
Gerade viele deutsche Modemarken haben seit jeher viel zu spät verstanden, was die Kunden bewegte. Da war bei der etablierten DOB-Marke im Kopf zu lange das Bild der alten Dame in grau und beige, dabei kann die heutige Kundin durchaus auf der Love Parade gewesen sein. Dies gilt es entsprechend zu übersetzen. Aber man hat halt eine Produktion für Konfektion, also bekommt die Anzugshose ein Bommelband, wird „cool“ fotografiert und dann soll der Kunde es bitteschön kaufen. Was sie aber zunehmend weniger tun.
Ähnlich ist es in der Modetheorie und ‑forschung. Sie gehen zumeist vom Gestalter und weniger vom Alltag der Menschen aus. Museen starten ihre Arbeit oft auf der Grundlage ihrer Sammlung. Doch gerade die Subkultur ist hier sehr fragmentarisch vorhanden. Viele relevante Themen bleiben daher außen vor.
Die eigentliche, durch Berlin beförderte und zugleich über Berlin hinausweisende Entwicklung zeigt sich im radikalen Bruch zwischen Laufsteg und Lebenswelten. Mode entsteht heute nicht mehr in den Ateliers. Statt von Profis werden Modetrends jetzt von Frau und Herrn Jedermann gesetzt.
Joachim Schirrmacher hat über die Entstehung und Entwicklung der Clubwear in der Redaktion des Fachmagazins Sportswear International berichtet und seitdem die Verbreitung der Streetwear sowie den Aufstieg und Fall der Modemessen – erst am Rhein, dann in Berlin – als Journalist intensiv begleitet. Heute arbeitet er als Autor, Sprecher und Creative Consultant. Der einstündige Vortrag „Niedergang oder grandioser Sieg? Mode in Berlin seit 1989“ , aus dem dieser Auszug stammt, wurde am 7. September 2022 zum Abschluss des Berliner Modesalons in der Reihe „Mode Thema Mode“ der Lipperheidesche Kostümbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin gehalten. www.schirrmacher.org