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Eine Branche spielt Schwarzer Peter

PhotoWer ist verantwortlich, wenn in Bangladesch oder Pakistan Arbeiter ausgebeutet werden, die Umwelt zerstört wird oder gar Menschen in baufälligen Fabriken ums Leben kommen? Sind es die großen Einzelhändler und Modemarken, die in ihrem Drang nach den billigsten Beschaffungsquellen jegliches Verantwortungsbewußtsein missen lassen? Sind es die raffgierigen Fabrikbesitzer in jenen Ländern, die sich auf Kosten ihrer Arbeiter hemmungslos bereichern, im engen Schulterschluss mit einer durch und durch korrupten Politiker-Kaste? Oder sind es wir Konsumenten, die bei unserer Jagd nach Schnäppchen Menschenleben in der Dritten Welt buchstäblich in Kauf nehmen?

Es sind alle zusammen, und das ist das Problem. Denn wer aus dem System ausschert, zahlt drauf. Das können sich die allerwenigsten leisten.

Deshalb schiebt jeder dem anderen den Schwarzen Peter zu. Die NGOs als selbsternannte Arbeitnehmervertreter den Fabrikbesitzern und weil sie dort den besseren Hebel sehen und es sich vor H&M in deutschen Fußgängerzonen auch leichter protestiert als vor Werkstoren in Karatschi den Modemarken und großen Handelsketten. Die Modeanbieter wiederum zwingen den Produzenten ihren Code of Conduct auf, was diese als zusätzlich kostentreibende Gängelung durch die westlichen  Konditionendrücker ansehen. Alle zusammen verweisen auf die untätige Politik, die Rahmenbedingungen entweder nicht setzt oder diese nicht durchsetzt. Und die Konsumenten verdrängen das Thema und kaufen weiter 4 Euro-T-Shirts bei Primark. Was unter Sustainability-Aspekten noch nicht einmal problematischer sein muss als das 50 mal so teure Designer-Shirt. Die Produktionskosten sind hier wie dort nicht der wesentliche Faktor.

Der Schadensersatzprozess gegen Kik ist so gesehen nur eine weitere Episode in diesem Schwarzer Peter-Spiel. Gestern wurde vor dem Landgericht Dortmund die Klage von vier Opfern des Fabrikbrands in Pakistan verhandelt, ein Urteil über die angebliche Verjährung wird im Januar erwartet. Neben der rechtlichen Frage ging es natürlich aus Sicht der NGOs auch darum, Kik an den Pranger zu stellen und das Problem der Billigproduktion erneut ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das ist gelungen. Der Fall hat es bis in die Abendnachrichten gebracht, und das wird völlig unabhängig davon, ob die Klage berechtigt ist an Kik kleben bleiben.

Noch nicht durchgesetzt haben sich die Kläger mit dem Versuch, die Haftung des Auftraggebers für Missstände bei internationalen Zulieferern feststellen zu lassen. So eine Haftpflicht mag dem subjektiven Rechtsempfinden zuwiderlaufen, aber der gesunde Menschenverstand ist für Juristen bekanntlich selten maßgeblich. Würde Kik in der Sache verlieren, hätte dies Auswirkungen für die internationale Arbeitsteilung weit über die Textilbranche hinaus, eine Klagewelle wäre womöglich die Folge, die Beschaffung würde sich verteuern.

Argumentationshilfe bekam Kik, so zynisch das klingt, gerade von der Regierung in Bangladesch. Die kündigte dieser Tage an, den „Bangladesh Accord“ auslaufen lassen zu wollen. Dieses Brandschutzabkommen hatte die Bekleidungsindustrie als Konsequenz aus der Rana Plaza-Katastrophe getroffen und damit wesentliche Verbesserungen der Zustände in den dortigen Textilfabriken erreicht. Jetzt schmeissen die Fabrikbesitzer die westlichen Kontrolleure mit Unterstützung ihrer Regierung aus dem Land, um künftig wieder ungestört ihre eigenen Vorstellungen von Gebäudesicherheit umsetzen zu können. Und die Modeindustrie kann den Schwarzen Peter an die korrupte Elite in Bangladesch weiterreichen.

Vielleicht löst sich das Problem eines Tages von ganz unerwarteter Seite. Nämlich dann, wenn sich das Modesystem vom bisherigen Push- tatsächlich in ein Pull-System verwandeln sollte. Die Digitalisierung hat das Potenzial, eine sehr viel stärker nachfragegesteuerte und automatisierte Produktion zu ermöglichen. Das wird nicht nur massive Auswirkungen auf die Kapazitäten haben, die es dann so nicht mehr braucht, sondern eine völlig neue Supply Chain und neue Produktionsmethoden mit sich bringen. „Schnelligkeit der Markteinführung und die saisonale Reaktionsfähigkeit sind heute wichtiger denn je für den Erfolg eines Bekleidungsspielers“, schreibt McKinsey in einem kürzlich publizierten Whitepaper. Marken und Einzelhändler im Massenmarkt könnten im nächsten Jahrzehnt nicht gewinnen, ohne sich zu einem bedarfsgerechten Modell zu entwickeln. „Der Trend zu mehr Nearshoring und stärker automatisierten Produktionsmodellen hat das Potenzial, Nachhaltigkeit weiter zu ermöglichen und die Anpassung einer Kreislaufwirtschaft im Bekleidungssektor zu unterstützen.“ Nachhaltigkeit werde künftig auch im Massenmarkt ein wichtiges Kauf-Argument. „Bekleidungsunternehmen im Massenmarkt, die Automatisierungstechnologien nutzen, um schneller und nachhaltiger zu werden, werden wahrscheinlich die Gewinner von morgen sein.“

Und die Näherinnen in Asien werden erst recht zu den Verlierern gehören.

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