Man ist ja geneigt, angesichts der rasant fortschreitenden Digitalisierung alles für möglich zu halten. Jüngstes Beispiel: Virtuelle Mode. Digital erzeugte, physisch nicht existente Klamotten, die in Social Media, Games und Augmented Reality getragen werden. Und mit denen Geschäft gemacht wird.
Die Idee ist bestechend. Wir ziehen uns ja nicht an, weil wir sonst frieren. Bekleidung dient seit jeher auch dem personal branding, und in dem Maße, wie wir unser Leben im Netz verbringen – was sich mit Corona potenziert hat – positionieren wir uns medial. Instagram & Co. sind Plattformen zur Selbstdarstellung, ein riesiges Ökosystem von Apps bedient das Bedürfnis nach visueller Selbstoptimierung. Da ist der Schritt zum virtuellen Outfit naheliegend. Und umweltschonender als Wardrobing, wo bereits produzierte Designermode nur fürs Foto bestellt und anschließend wieder zurückgeschickt wird, ist die digitale Ware allemal. Zu Ende gedacht, ist virtuelle Mode vielleicht sogar so etwas wie die Lösung aller Sustainability-Probleme der Modebranche.
Doch im Ernst. Es ist in den vergangenen Monaten ein kleiner Hype um das Thema entstanden. Getrieben durch PR-trächtige Aktionen wie dem virtuellen Sneaker-Drop, der dem Londoner Label RTFKT insgesamt 3,1 Millionen Dollar einbrachte, oder dem virtuellen Hoodie für 19.000 Pfund von einem Streetwearlabel mit dem passenden Namen "Overpriced". Basierend auf der Blockchaintechnologie, die mit Nun-Fungible-Tokens (NFT) virtuellen Besitz möglich gemacht hat, was zurzeit auch im Kunstmarkt enorme Wellen schlägt. Vermutlich durchdringen die wenigsten, wie das Ganze funktioniert. Aber das hält die Leute ja auch nicht davon ab, wie blöd Bitcoin zu kaufen.
So hat sich inzwischen eine kleine Szene von digitalen Labels (wie z.B. Auroboros oder RTFKT), Agenturen (wie The Fabricant) und Verkaufsplattformen (wie z.B. DressX, Tribute Brands oder Dematerialised) gebildet, die das Thema voranbringen, mit Interesse verfolgt von Finanzinvestoren und Venture Capital-Gebern, die ja stets auf der Suche nach dem nächsten großen Ding sind. Zumindest die Gaming-Szene scheint offen für das Thema, und das ist ja keine zu vernachlässigende Zielgruppe mehr. So sollen allein die 250 Millionen Fortnite-Spieler monatlich einen hohen dreistelligen Millionenbetrag für Skins (also Outfits und Zubehör, mit denen sie ihre Avatare individuell ausstatten können) ausgeben.
Im breiten Markt dürfte das kommerzielle Potenzial von virtueller Mode indes noch sehr überschaubar sein. In allererster Linie hat sich damit ein neues Spielfeld fürs Modemarketing aufgetan, das von den großen Brands zunehmend betreten wird. Louis Vuitton und Burberry hatten bereits Auftritte in Online Games. Auch eine Agentur wie The Fabricant verdient ihr Geld vermutlich vor allem mit Werkarbeiten (z.B. für Tommy Hilfiger, Adidas oder Buffalo) und nicht mit dem Verkauf von virtuellen Outfits. Im März sorgten die „Gucci Virtual 25“ für Schlagzeilen, eine AR-Anwendung in Kooperation mit der App „Wanna Kicks“. Dass die am Geschmack der Gamer ausgerichteten quietschbunten Schuhe stilistisch eigentlich nicht zu Gucci passen und mit 12,99 Dollar für eine Luxusmarke viel zu billig sind – geschenkt. Auch H&Ms jüngste Kampagne mit Maisie Williams (der Arya Stark aus „Game of Thrones“) spielt sich teilweise „in game“ ab. So eröffnet H&M in Animal Crossing seine Recycling-Station Loop Island, wo Spieler ihre alten Outfits in neue tauschen können.
Der Nutzen der digitalen Technologie liegt indes nicht nur im Marketing oder gar im Verkauf von virtueller Ware. Das wirkliche Potenzial für die Industrie wird sich hinter den Kulissen entfalten: in Design, Produktentwicklung und Produktion, im Supply Chain Management und im B2B-Vertrieb (virtuelle Showrooms etc.). Anbieter wie Lectra oder Assyst bieten hier bereits interessante Lösungen. Das DMI veranstaltet am kommenden Dienstag mit dem Re’aD Summit übrigens einen – natürlich digitalen – Kongress zum Thema.
Und vielleicht kommen wir so eines Tages im Massenmarkt zu Fashion on Demand-Lösungen, wo tatsächlich nur noch das produziert wird, was zuvor virtuell verkauft wurde. Eine solche Vermeidung von Überproduktion wäre aus Nachhaltigkeits- wie auch aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoll. Abgesehen davon, dass dies nicht wirklich im Interesse der bestehenden Strukturen in Handel und Industrie ist und es auch ein paar gesetzliche Hürden gibt, dürfte das aber auch aus anderen Gründen noch dauern. Denn das setzt neben funktionierender Technologie und völlig neu strukturierten, maximal flexiblen Supply Chains insbesondere eine Veränderung der Anspruchshaltung der Konsumenten voraus.
Vielleicht ist dies sogar der größte Hemmschuh. Fashion on demand wird kaum "same day" funktionieren. Aber die Kunden werden durch das Online Shopping ja gerade darauf trainiert, dass alles an jedem Ort zu jeder Zeit verfügbar ist. Warten als die Begehrlichkeit steigernde Kulturtechnik ist leider aus der Mode gekommen.
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Und sonst?
…zeigte Hollywood Bauch. Bemerkenswert viele Roben bei der Oscar-Verleihung am Sonntag gaben den Blick auf Bauchnabel und Taille frei. Die Celebrities zeigen, dass ihnen Corona nichts anhaben konnte.
…sank der Klopapier-Absatz im ersten Quartal nach Angaben des Verband Deutscher Papierfabriken (VDP) um 8,1 Prozent. Die Deutschen rechnen offenkundig mit einem baldigen Ende der Pandemie.