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Des Valleys neue Kleider

An der digitalen Transformation führt kein Weg vorbei, alternativlos. Diese Gebetsmühle kennt jeder. Man kann sie jedoch auch übertreiben, sich so weit in die Matrix wagen, dass es fürs physische Geschäftsmodell gefährlich wird. Virtuelle Konsumwelten sind schließlich immer nur einen Klick entfernt vom, äh, Nichts. Ein beunruhigter Reminder von Siems Luckwaldt.
Siemsluckwaldt
Siems Luck­waldt

„Aber er hat ja gar nichts an!“, rief zuletzt das gan­ze Volk. Das ergriff den Kai­ser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dach­te bei sich: ‚Nun muss ich aus­hal­ten.’ Und die Kam­mer­her­ren gin­gen und tru­gen die Schlep­pe, die gar nicht da war.

– „Des Kai­sers neue Klei­der“, Hans Chris­ti­an Ander­sen (1837)

Vor ein paar Tagen muss­te ich aus hei­te­rem Him­mel an Wil­li Wiberg den­ken. Beim medi­ta­ti­ven Rasen­mä­hen, dem knat­tern­den Ersat­z­yo­ga der Stadt­flüch­ti­gen. Von Ben­zin­dunst umweht und auf­ge­scheuch­ten Bie­nen umsummt. Plötz­lich: Wil­li. Klein, etwas dick­lich, das Mond­ge­sicht von kur­zen Haar­stop­peln ein­ge­rahmt, der Pull­over zu groß, die Hosen zu kurz. So wie ihn seit sei­nem ers­ten Auf­tritt in den Büchern der Schwe­din Gunil­la Berg­ström welt­weit Mil­lio­nen von Kin­dern lieb­ge­won­nen haben. Gut 35 Jah­re hat­te ich nicht an den Drei­kä­se­hoch gedacht. Eini­ge Mulch­bah­nen spä­ter kam ich auf den Grund für die Rol­le rück­wärts im Kopf. Weil Wil­li die meis­ten sei­ner Aben­teu­er in der Fan­ta­sie erlebt. Weil er frü­her mal mein ima­gi­nä­rer Freund war. Und weil sich unser (Wirtschafts-)Leben rasant einer rein vir­tu­el­len, man könn­te ätzen, ein­ge­bil­de­ten Exis­tenz nähert, Luft­bu­chun­gen inklu­si­ve. Die Mode- und Luxus­bran­che macht da kei­ne Aus­nah­me. Das ist Ihnen jetzt zu phi­lo­so­phisch? Au con­trai­re, mes amis. Schön wärs.

Zap­pen wir gemein­sam durch ein paar Merk­wür­dig- und Unge­heu­er­lich­kei­ten der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit, die durch mei­ne Gedan­ken irr­lich­tern. Eine Ste­ve-Jobs-Imi­ta­to­rin im Stimm­bruch, die sich vor Inter­views mit Wirt­schafts­ma­ga­zi­nen kaum ret­ten kann, deren Nobel­preis-wür­di­gen High­speed-Blut­tests nur lei­der Hirn­ge­spins­te sind. Stil­be­wuss­te Gamer, die für ihre Fort­ni­te-Ava­tare gepi­xel­te Cou­ture ein­kau­fen. Fal­sche Fashion, ech­te Schei­ne. Eine Iko­ne der Uhren­bran­che, die ihren liebs­ten Zeit­mes­ser als NTF ver­stei­gert, eine digi­ta­le Replik also, untaug­lich zum Posen im Club. Cle­ve­re Jung-Schild­bür­ger, die mit Aro­ma-Pads nicht das Was­ser in der Fla­sche auf­pep­pen, son­dern der Nase des Durs­ti­gen exo­ti­sche Geschmä­cker vor­täu­schen. Wäh­rend das küh­le Nass fad bleibt. Sin­nes­täu­schung, rea­dy für Risi­ko­ka­pi­tal. Lauf­steg­spek­ta­kel, die erst per erwei­ter­ter Rea­li­tät im Smart­phone oder vor der Ocu­lus-Lin­se einen gewis­sen Reiz erhal­ten. Gewis­sen­lo­se Draht­zie­her, die 1,9 Mil­li­ar­den erst erfin­den, dann ver­schwin­den las­sen. Nicht­den­ker, denen die Alu­hü­te aus­ge­hen.

Fehlt noch der unge­krön­te König aller Rea­li­täts­ver­lus­ti­gen: Sal­va­to­re Gar­au, ita­lie­ni­scher Künst­ler. Sei­ne Skulp­tur, die jüngst für 15.000 Euro den Besit­zer wech­sel­te, trägt den Titel „Io sono“. Das bedeu­tet über­setzt „Ich bin“. Eine per­fi­de Iro­nie, denn auf die­ses Werk mag vie­les zutref­fen, nur (da) sein tut es eben nicht. Trotz­dem ist der neue Besit­zer ange­hal­ten, für das teu­re Nix eine Flä­che von 1,5 mal 1,5 Metern frei­zu­hal­ten. Und plötz­lich erscheint ein ver­gol­de­ter Klo­de­ckel im Ver­gleich grund­ver­nünf­tig. Ohne die Iden­ti­tät des Käu­fers zu ken­nen, wage ich zu behaup­ten: Er besitzt eine erstaun­li­che Vor­stel­lungs­kraft, zu vie­le liqui­de Mit­tel und einen als Kunst­ver­stand getarn­ten Voll­schat­ten.

Wir leben immer noch in einer hybriden Welt – zwischen wirklich da und virtuell – und sind nicht über Nacht zu Humanoiden mit implantierten Chips mutiert. So agieren und kommunizieren nur leider mehr und mehr Marken, losgelöst vom Gestern, das jedoch weiterhin die soliden Profit-Schultern darstellt, auf denen nun die Jung-Strategen herumhampeln und TikTok-Videos drehen.

Ent­schul­di­gung, aber was ist hier los? Pan­de­mi­scher Aus­bruch von Lan­ge­wei­le, oder was? Ist die Kli­ma­ka­ta­stro­phe abge­wen­det, herrscht Welt­frie­den, Chan­cen­gleich­heit – und ist Brit­ney Spears aus ihrer Knecht­schaft ent­las­sen? Nein? Ach so. Bloß die Geld­spei­cher zum Bers­ten voll und Sili­con Val­ley ein­fach zu sexy, ja?!

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Ein phy­si­sches Gut wie Klei­dung unge­bremst zu vir­tua­li­sie­ren – zwecks Öko­no­mie oder Öko­lo­gie – das ähnelt ver­blüf­fend Ander­sens nack­tem Kai­ser.

Hm, dann nähert sich der Spät­ka­pi­ta­lis­mus wohl wirk­lich dem dun­kel­ro­ten Dreh­zahl­be­reich. Wenn wir uns gegen­sei­tig unsicht­ba­re Waren für hor­ren­de Men­gen Daten­mün­zen ver­kau­fen, geschürft auf schrab­be­li­gen PCs im Nir­gend­wo. (Gut, ich fand Schle­mihl ja auch wit­zig, der Ernie stän­dig Buch­sta­ben andre­hen woll­te, die es nicht gab. Aber da war ich vier.) Wenn ani­mier­te AI-Models ger­en­der­te Kla­mot­ten vor­füh­ren, die nach der Bestel­lung erst­mals das CAD ver­las­sen, vom Robo-Kurier an die Tür gebracht und nach kur­zem Haul-Video und Ins­ta-Post in den Schrank gepfef­fert oder per App wei­ter­ge­krei­selt wer­den. Selbst die ange­nehm archai­sche Welt der Craft-Mar­ken, der Maker Fairs und der Etsy-Put­zig­keit löst sich längst in Nul­len und Ein­sen auf, wird rus­ti­ka­les Bil­der­fut­ter für Algo­rith­men, zur rei­nen Retro-Deko im Inter­netz.

Ja, natür­lich, die umfas­sen­de Digi­ta­li­sie­rung der Tex­til- und ande­rer Indus­trien spart Pro­to­ty­pen, ver­mei­det Über­pro­duk­ti­on und Order­rei­sen, opti­miert die Res­sour­cen­nut­zung und glo­ba­le Zusam­men­ar­beit. Schafft mehr Raum und Bud­get für Inno­va­tio­nen. Da bin ich dabei, das ist pri-i-ma. Dau­men hoch, grin­sen­des Emo­ji, das gan­ze Gedeck. Ein paar kur­ze Nach­fra­gen bloß:

Wie nötig sind eigent­lich noch Klei­dungs­stü­cke, soll­ten Job und All­tag in die­sem Tem­po wei­ter vor und in den Bild­schirm umzie­hen? In 18 Mona­ten Coro­na hat irgend­was oben­rum ja auch als Out­fit gereicht. Was bleibt eigent­lich an hand­fes­tem Cash in der Kas­se, wenn Mode­mar­ken bei „Ani­mal Crossing“ ein­fal­len, Video­spiel­fi­gu­ren aus­stat­ten und den cool kids so weit in deren digi­ta­le Sphä­re fol­gen, dass sie den Weg zurück kaum mehr fin­den? Ich mei­ne Geld, das man Men­schen aus­zah­len kann, die in sta­tio­nä­ren Bou­ti­quen arbei­ten, vor rat­tern­den Näh­ma­schi­nen sit­zen und Jeans in Indi­go tau­chen. Kein kryp­ti­sches Spiel­geld, mit dem man im Dark­net die Rech­nung des Waf­fen­dea­lers begleicht.

Don’t for­get: Wir leben immer noch in einer hybri­den Welt – zwi­schen wirk­lich da und vir­tu­ell – und sind nicht über Nacht zu Huma­no­iden mit implan­tier­ten Chips mutiert. So agie­ren und kom­mu­ni­zie­ren nur lei­der mehr und mehr Mar­ken, los­ge­löst vom läs­ti­gen Ges­tern, das jedoch wei­ter­hin die soli­den Pro­fit-Schul­tern dar­stellt, auf denen nun die Jung-Stra­te­gen her­um­ham­peln und Tik­Tok-Vide­os dre­hen.

(Ver­zwei­fel­te) Prä­senz bei zukünf­ti­gen Ziel­grup­pen, ein flo­rie­ren­der E‑Commerce, Block­chain-Struk­tu­ren für nach­hal­ti­ge­re Lie­fer­ket­ten. Total ver­ständ­lich. Den­noch: Ein phy­si­sches Gut, das von Kun­den gekauft und ange­zo­gen wer­den muss, der­art unge­bremst zu vir­tua­li­sie­ren – zwecks Öko­no­mie oder Öko­lo­gie – das ähnelt ver­blüf­fend Ander­sens nack­tem Kai­ser. Und schon im Mär­chen hiel­ten alle den Schwin­del auf­recht, weil nie­mand sich durch vor­sich­ti­ge Kri­tik die Blö­ße man­geln­der Intel­li­genz und Fort­schritt­lich­keit geben woll­te. Blöd nur: Wer ein „Wow“ nie hin­ter­fragt, muss spä­ter mit dem „Auweia“ fer­tig wer­den.