„Meine Lieeeeebe“, brüllt Romy Haag, spitzt den Mund und macht schon von weitem dieses bedrohlichen „Mmmm“, mit dem sich Party-Küsschen ankündigen, um dann in einem hohlen Plopp auf jedermanns Wange zu enden. In diesem Fall auf meiner. „Vorsicht, mein Hut!“, sage ich. „Riesenparty“, sagt Romy.
(aus „Ruf! Mich! An!“ von Else Buschheuer)
Diese Romanszene ist satirisch überzeichnet, natürlich. Doch ohne wahren Kern wär’s nicht witzig. Und vermutlich erinnern Sie sich an PR-Termine, an Modemessen, working lunches und Gala-Events, bei denen die ersten fünf, zehn Minuten von der bangen Frage dominiert wurden: Wen habe ich noch nicht, wen müsste ich noch …? Gemeint ist: busseln. In vielerlei Varianten. Mit lautem *moi* links, rechts und Haut-Lippen-Kontakt. Eher flüchtig, Wange an Wange pressend. Bloß angedeutet, mit rasch über der Schulter des Gegenübers drapiertem Kinn. Die Notlösung bei Gedränge oder einer Erkältung: Der über die Tiefe des Raumes gehauchte Kuss auf die eigenen Fingerspitzen mit anschließendem Pusten. Wer schon mal eine Schnupperstunde Yoga hatte, zieht sich mit gefalteten Handflächen und gemurmeltem „namasté“ aus der Affäre. Am liebsten aber alles schön frontal, mit fühlbarer Benetzung.
Als ich vor rund 25 Jahren mit zaghaften Schritten in die Lifestyle-Medien tapste, war vielleicht mehr Glamour, definitiv jedoch weniger „Bussi, Bussi“. Und dabei habe ich wohl berücksichtigt, dass ich als Jungspund hierarchisch von wichtigen Wangenpartien natürlich weit entfernt war. Anfangs kam es später nur unter langjährigen Kontakten und Kollegen zum gelegentlichen XOXO, um Vertrautheit und Netzwerkstatus zu untermauern. Heute wird allerorts hemmungslos geherzt, von der Chefin bis zum Werkstudent, sofern man es nicht bei drei auf den nächsten Baum oder den E‑Roller schafft. „Sealed with a kiss“, gell, Jason Donovan. Und alle machen mit, mich eingeschlossen, wie im schlechten Remake einer mittelprächtigen Dietl-Dramödie. Warum? Egal. Don’t talk, just kiss …
Längst ist das Küsschen nämlich zum notwendigen Lippenbekenntnis geworden. So wie die Mitgliedschaft bei Xing oder LinkedIn. Wenig greifbarer Nutzen, reichlich Möglichkeiten für die Autosuggestion von Erfolg. Hinter irgendeinem Klick auf „Connect“ könnte ja der Karrierebooster stecken, wie der Upgrade-Pilz bei „Super Mario“. Gleiches gilt für das Schmatzerchen und die damit zur Schau gestellte „geschäftsfördernde“ Intimität, das vorgegaukelte Freund*innen-Feeling.
Bleibt der platonische Knutscher aus, gilt es, Nachfragen zu parieren: „Wie, du busselst dich nicht mit X? Dann wird es höchste Zeit, die kennt schließlich Y und den Boss von Z. Das sind Superchancen für dein Projekt 123!“ Tja, das bedeutet bei größeren Veranstaltungen: Reichlich Wasser trinken und Labello nicht vergessen. Sonst wird nicht nur der Charme spröde, schließlich droht beim Abschied die gleiche Prozedur. Es sei denn, man verschwindet klammheimlich (guilty!), schiebt ein wartendes Taxi vor oder das seltsam blümerante Gefühl nach dem Verdauungs-Grappa. Nicht sonderlich stilvoll: das Knöchelklopfen auf die Dinnertischplatte.
Herzlichkeit, Sympathie und Respekt auszudrücken, das muss auch ohne Bussi klappen. So wie das kumpelhafte Duzen in einem Konzern noch keinen CEO von Massentlassungen abgehalten hat, sollte umgekehrt all das dealing and wheeling ohne gespitzte Lippen möglich sein.
Dann kam die Pandemie, und Küsschen gab es bloß noch für den Partner, die Kids, das Haustier. Das Business-Busseln wurde ersetzt durch trockene, keimfreie Emojis im Videocall. Branchenweiter Entzug, cold turkey. Nix mehr mit „Lass dich drücken, Darling“ und *moimoimoi*. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen erging, aber die wirklich guten Kontakte blieben genau das. Ohne regelmäßiges Bestätigungsbussi in rund 18 Monaten. Mehr noch. Mir stieß im Nachhinein sauer auf, wie sehr die aus dem Kontext von Familie und Liebesbeziehung geliehenen Rituale so essenziell menschliche Gefühle und Verhaltensmuster zum reinen Selbstmarketing und Deal-Schmiermittel degradiert hatten. Zuneigung und Wiedersehensfreude als reflexhaft abgerufene Job-Scharade.
Statt mich also an Sauerteigbroten und dem Harfespiel zu versuchen, fasste ich den Entschluss, den ersten Post-Lockdown-Schmatz jenseits unseres Haushaltes viel lieber meiner Mutter auf die Wange zu drücken als irgendwem im Rahmen einer Produkt-Präsentation. Nichts gegen Nähe, die tut gut nach der langen Zeit digitaler Isolation und Ansteckungsangst. Nur habe ich meine Standards dafür erhöht, wen ich in meinen personal space vorlasse. Inspiriert hat mich dazu ein Satz, den Wolfgang Joop in einem Gespräch vor vielen Jahren äußerte. Sinngemäß sagte er damals, dass er mittlerweile sehr genau prüfe, welche Dinge er noch in sein Leben lasse. Leicht(er) gesagt für einen Promi, mag sein. Trotzdem nachahmenswert und eine gute Maxime fürs Miteinander.
Herzlichkeit, Sympathie und Respekt auszudrücken, das muss auch ohne Allerwelts-Bussi klappen, lautet meine Theorie. So wie das kumpelhafte Duzen in einem Konzern noch keinen CEO von Massentlassungen abgehalten hat, sollte umgekehrt all das dealing and wheeling ohne gespitzte Lippen möglich sein. Das muss ja nicht gleich Unnahbarkeit und in Innenräumen getragenen Sonnenbrillen von der Größe einer Karnevalsmaske bedeuten. Ich bin gespannt, wie mein Experiment verläuft. Bussi 😉
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
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