„Alles wird besser, doch nie wieder gut“
Rosenstolz
Mir wurde ja zuletzt in einem Kommentar unterstellt, ich würde wortgewandt und genüsslich in Wunden bohren, statt ganz artig Pflaster mit Schlumpf-Motiven draufzukleben. Das möchte ich natürlich gerade in dieser akut besinnlichen Zeit nicht länger auf mir sitzen lassen. Jetzt, wo wir es uns mit in der Mikrowelle aufgewärmtem Glühwein, steinharten selbstgebackenen Lebkuchen und einer Million Streaming-Diensten so richtig gemütlich machen können. Oder trauen Sie sich etwa noch auf einen Weihnachtsmarkt? Sorry, ich nicht. Das ist vielleicht typbedingt. Schon als Corona bloß mittelmäßiges mexikanisches Bier war, habe ich sofort den Bahnwagon gewechselt, wenn jemand in seinen Schal geniest oder geröchelt hat. Dicht gedrängt für einen Crêpe, Apfelpunsch oder eine Krakauer anzustehen – da glitzern sofort Schweißperlen auf meiner Oberlippe.
Wo war ich? Beim total serviceorientierten Upgrade dieser Kolumne, genau. Einer muss sich schließlich mal ganz handfest um konkrete To-dos für die Mode- und Luxusindustrie kümmern. Eben weil die viel bejubelten Genies unserer Zeit den irdischen Kleinkram zunehmend hinter sich lassen, um nach den Sternen zu streben. Mit phallischen Raketen auf dem Weg in den Orkus, pardon, Orbit.
Auch ein Komplettausfall bei der Lösung echter Probleme sind Tante Meta (geb. Facebook) und Vetter Elon, der schon als Kind in der Sandkiste negativ auffiel. Keinerlei Tuchfühlung mit der Wirklichkeit, schade drum. Es ist psychologisch durchaus verständlich, dass sich superreiche Nerds, die in der Schule vermutlich jede Pause kopfüber in irgendeiner Mülltonne verbringen mussten, den verletzten Stolz von einst nun mit spätpubertärem Größenwahn trösten. Nur halt eher was für die Therapeutencouch als den Vorstandssessel. Egal. Die Superhirnis fallen aus, dann übernehme ich das kurz. Habe vor dem nächsten Teams-Videomeeting eh noch fünf Minuten, kein Ding.
Hier also mal ein paar gute Vorsätze und Reminder für 2022:
1.Jeder Fashion-Gründer muss vor einem Gremium schlüssig erklären, warum um Himmels willen es noch ein neues Label geben sollte oder gar muss. Wer das nicht zufriedenstellend zu beantworten vermag, wird für eine Umschulung in Sozialarbeit oder als Pflegefachkraft angemeldet.
2.Marken sollten damit aufhören, wichtige gesellschaftliche Kämpfe um mehr Teilhabe und gegen Diskriminierung für plakative Absatzförderung zu kapern. Aktivismus ist kein T‑Shirt, er verdient Respekt und Unterstützung, kein billiges ‚virtue signaling‘ auf Instagram und Bla-Bla-Wortblasen.
3.Lifestyle-Magazine könnten doch mal wieder Kollektionen und Laufstegshows rezensieren. Ja, das würde auch bedeuten, subjektiv und begründet aufzuschreiben, warum ein Defilee ganz schlimmer Quatsch war. Verrückte Idee, ich weiß. Aber wenn Mode Kunst ist, wie es für (manche) Filme proklamiert wird, dann darf es auch eine Art Rotten Tomatoes für Mode geben.
4.Bitte keine Werbegeschenke wie Bleistifte oder Notizblöcke mehr für uns Medienarbeiter. Bin ich Karla Kolumna oder was? Und warum putzige memory sticks ausgeben, wenn Tage später der Download-Link kommt… Nachhaltigkeit, schon mal gehört?
5.Und bitte, liebe Marken, hört auf, euch bei Assouline oder Gestalten oder anderswo so wuchtige Vanity-Bücher klöppeln zu lassen. Das ist ja so, als würde ich Geburtstag feiern und jedem Gast meine Memoiren schenken. So viele wackelnde Esstische hat keiner.
6.Der deutsche Modestandort braucht nicht noch mehr Vereinsmeierei, er braucht Kreativität mit globalem Appeal. Oder soll nach Hause gehen. Also quasi hier bleiben. Schluss mit dem Irrglauben, man könne sich über Komitees und putzige Panels irgendwie Style-Relevanz erplaudern, das treibt mir den Blutdruck hoch. Kein Label von Weltrang ist durch Subventionen und Diskutierkreise zum ‚hot shit‘ geworden. Mode ist weder Photovoltaik noch eine Olympiabewerbung. Wer gern beim Prosecco gepflegt zusammenhockt, soll einen Buchclub gründen und den neuen „Thriller“ von Dirk Rossmann besprechen.
Obacht, denn das Thema Nachhaltigkeit in der Mode ist auf dem Weg nach Absurdistan. Zumindest sehe ich im neuen „Altkleider gegen Gutschein“-Push der E‑Commerce-Riesen weniger Umweltschutz als ein recht fadenscheiniges Bemühen, mehr Dynamik in volle Kleiderschränke zu bringen.
7.Wenn dann irgendwann alle Influencer wieder aus Dubai zurück sind, brauchen wir dringend ein Influencer-Gesetz oder eine Ergänzung des Pressekodex um diese Multiplikatoren. Mit Rechten, mit Pflichten, mit steuerlichen Grundsätzen, das ganze Gedeck. Juristische Grauzonen sind wie Lockdown-Speckröllchen: Man müsste mal was dagegen tun.
8.Was ist eigentlich aus dem Gerede von der Abschaffung der Saisons geworden? Die neue, klimakatastrophal-konforme Ganzjahresmode? Nix, oder? Macht euch da flugs ran, liebe Labels, sonst bestraft euch der Wetterfrosch weiter mit zu warmen Wintern und zu kalten oder nassen Sommern. Das Geheule darüber kann ich mir nämlich einfach nicht mehr anhören. Change or shut up. Dankeschön.
9.Schluss mit den line extensions! Nein, nicht jede Modemarke braucht ein Parfüm, eine Home Collection, eine eigene Bio-Brause oder ein Stickeralbum. Merkt ihr eigentlich noch was? Eure Kollektion hat weder prägnante Designsprache noch greifbare Zielgruppe und die Strahlkraft eurer Brand liegt im Bereich einer Stummelkerze bei Orkan. Das sollen jetzt Logo-Wasserflaschen und Socken retten? Macht doch lieber mal eine Sache richtig.
10.Don’t believe your own bullshit. Und das gilt ausdrücklich für alle Macher, alle Branchen, alle Märkte, Medien und mich eingeschlossen. Natürlich darf, nein, sollte man überzeugt sein von der eigenen Arbeit, der man mit Leidenschaft und hoffentlich ausreichend Fachkenntnis nachgeht. Nur die kritische Distanz dazu, die darf nicht auf der Strecke bleiben. Was würde ein Outsider über das eigene Unternehmen denken? Wo runzelt er oder sie vermutlich die Stirn? Was kann man schon dem eigenen privaten Umfeld eigentlich nicht mehr als logisch und sinnvoll verkaufen, ohne dass ein „WTF?“ als Antwort droht? Wagen wir in regelmäßigen Abständen mal einen schonungslosen Rundumblick, als mentalen ‚palate cleanser‘, als Frischekick fürs Hirn.
11.Obacht, denn das Thema Nachhaltigkeit in der Mode ist auf dem Weg nach Absurdistan. Jedenfalls zum Teil. Zumindest sehe ich im neuen „Altkleider gegen Gutschein“-Push der E‑Commerce-Riesen weniger Umweltschutz als ein recht fadenscheiniges Bemühen, mehr Dynamik in volle Kleiderschränke zu bringen. Für mehr Umsatz. Währenddessen klagen die traditionellen Container-Aufsteller, dass dort bloß noch unbrauchbare Fetzen verklappt werden. Das ist kein Kreislauf, das ist eine Sackgasse für die wirklich Bedürftigen ohne Zalando-Account.
12.Mehr Mut zur Leichtigkeit. Das habe ich mir als Leitmotto für 2022 auf eine Serviette gekleckst. Dabei könnte helfen, zu wissen, dass wir uns zwar alle nach Herzenslust tagtäglich abrackern, die Köpfe heiß denken, den Mund fusselig reden und Kolumnen volltexten. Doch, das mag jetzt manche erstaunen, so wirklich haben wir eigentlich nur einen winzigen Teil unseres (Arbeits-)Lebens in der Hand. Das ist frustrierend und befriedigend gleichermaßen, finde ich. Denn umso mehr Einfluss haben wir auf unser echtes, das private (Er-)Leben. Und da sollte es eigentlich viel wichtiger sein, einen guten Job zu machen, als an der Arbeitsfront.
In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund, glücklich und gern ein klein wenig verrückt. Wir lesen uns in 2022 wieder.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.