Es war einmal eine Branche, die traf sich zweimal im Jahr in Düsseldorf zur Messe. Da zeigten die einen, was sie sich über die Monate ausgedacht hatten und von dem sie meinten, dass die anderen damit ein halbes Jahr später ein gutes Geschäft machen würden. Die anderen ließen sich überzeugen oder auch nicht. Am Ende hatten sie in jedem Fall den Großteil ihres Einkaufsbudgets platziert, immer in der Hoffnung, dass die eigenen Kunden die Auswahl schon gut finden würden. Die Lieferanten hatten anschließend sechs Monate und mehr Zeit, die Aufträge zu sammeln und irgendwo in der Welt zu produzieren. Irgendwann innerhalb eines großzügig vereinbarten Zeitraums von 30 Tagen wurde die Ware dann ausgeliefert, häufig unvollständig oder in unpassenden Farb- und Größensätzen. Die Produktion gab den Takt vor.
Die Händler fluchten jedes Mal aufs Neue, aber was sollten sie machen? Sie nahmen die Ware, wie sie kam, bezahlten sie und gaben sich alle Mühe, sie wieder loszuwerden. Dummerweise hatten sie ein halbes Jahr zuvor die Nachfrage nicht immer richtig eingeschätzt. Wie sollten sie auch? Händler sind schließlich keine Hellseher. Und so dauerte es im Schnitt 20 bis 25 Wochen, bis sie ihr Geld wieder in der Kasse hatten. Häufig weniger als kalkuliert. Wenn die Ware den Kunden nicht gefiel, musste sie halt über den Preis verschönert werden. Im Schlussverkauf wurde dann endgültig Kasse gemacht. Das lohnte sich unter dem Strich zwar nicht unbedingt, aber man brauchte das Geld, um die wie jedes halbe Jahr zur Unzeit eintrudelnde neue Ware bezahlen zu können. Die Lieferanten betraf das alles meist erst dann, wenn übermäßige Preisabschriften zum Abbruch der Geschäftsbeziehung zu führen drohten. Über viele Jahre lebte die Branche meist mehr recht als schlecht mit diesem System.
Vertikale Allianzen: Mehr Gegeneinander als Miteinander
Bis die Vertikalen kamen. Die hatten erkannt, dass die Kundenwünsche am Anfang und nicht am Ende des Prozesses stehen müssen, und dass die Produktion sich entsprechend an den Anforderungen des Verkaufs auszurichten hat. Sie hatten sich überlegt, wie sich der Zeitraum zwischen Order und Auslieferung verkürzen ließe und ob es dadurch nicht möglich sein sollte, das Abschriftenrisiko zugunsten niedrigerer Preise zu minimieren. Und siehe da, es ging. Die Vertikalen ersetzten die klassische Vororder durch ein System permanenter Warenversorgung, das auf einem intelligenten Mix aus langfristiger Planung und kurzfristiger Reaktion auf Abverkaufstrends basierte. Ganz nebenbei eliminierten sie in erheblichem Maße Vertriebs- und Beschaffungskosten der klassischen Distribution. Sie kombinierten das Ganze mit einer konsequenten Zielgruppenansprache. Damit brachten sie die nicht-vertikalen Händler und Hersteller schwer in Bedrängnis.
Letztere reagierten mit hektischer Betriebsamkeit, zerlegten ihre Kollektionen in Früh‑, Haupt‑, Zwischen- und Flash-Programme und garnierten das Ganze mit NOS-Angeboten. Und sie erfanden die Shop-in-Shops, die sie ihren Handelskunden als eine Art Viagra für höhere Flächenproduktivitäten empfahlen. Diese wunderten sich, dass ihre Quadratmeterumsätze trotz immer mehr Shop-Flächen im Haus insgesamt nicht stiegen und ärgerten sich, dass sie mit der Ware nun auch noch Möbel kaufen sollten.
Auf Branchenkongressen redeten alle von vertikalen Allianzen, die die Schnelligkeits- und Effizienzvorteile der Vertikalen mit den Vorzügen des klassischen Geschäftsmodells – der Kundennähe, Individualität und Beratung – kombinieren sollten. Im Tagesgeschäft machten sie aber munter weiter wie bisher und arbeiteten mehr gegeneinander als miteinander. Die einen fühlten sich als Marke und entwickelten wunderschöne Kollektionen, die die anderen einkauften und in ihren toll eingerichteten Läden den Konsumenten anpriesen. Die Menschen kauften aber immer weniger bei ihnen, denn sie hatten sich früher und billiger bei der vertikalen Konkurrenz eingedeckt.
Die Ketten übernahmen in der Fußgängerzone ein Geschäft nach dem anderen. Aufgrund ihres Margenvorsprungs hatten sie beim Mietpoker immer die Nase vorn. Die Marken, die in ihrer Not und nicht selten investorengetrieben eigene Läden eröffnet hatten, mussten realisieren, dass sie es auch nicht besser konnten als ihre Ex-Handelskunden. Letztere hatten die Shops ihrer Lieferanten wieder abgebaut und suchten ihr Heil in der Rückbesinnung auf alte Stärken – Leistungen, die indes immer weniger Konsumenten goutierten. Und während sich bei den etablierten Anbietern zunehmend die Befürchtung bestätigte, dass das Geschäft mit der Masse nur noch in vertikalen Strukturen einträglich zu betreiben ist, rollte die nächste Revolution an.
See now, buy now: Die ganze Welt der Mode, jetzt und sofort
Am Anfang lachten alle über die neuen Wettbewerber aus dem Internet, die weniger Geld verdienten als sie verbrannten. Mit dem Platzen der New Economy schien der Spuk dann auch erstmal vorbei. Doch das Internet war in der Welt und ging nicht mehr weg, und findige Unternehmer im Silicon Valley, in Seattle und Berlin sahen die Möglichkeiten, die die digitale Revolution ihnen im Einzelhandel bieten würde. Die etablierten Retailer setzten auf Haptik und Umkleidekabinen, den Umstand ignorierend, dass der Distanzhandel seit jeher einen überdurchschnittlichen Marktanteil am Modehandel hat. Sie verstanden nicht, dass in der boomenden Internet-Ökonomie Marktanteilsgewinne vor Profiten kommen. Und sie unterschätzten die Dynamik, mit der die mit Milliarden-Fremdkapital gepamperten Start-ups ihre Organisationen zu erfolgreichen Unternehmen ausbauten.
So kam es, wie es kommen musste. Die Menschen kauften immer häufiger von daheim auf dem Sofa, bald sogar mit kleinen mobilen Geräten, die die Älteren noch zum Telefonieren benutzt hatten. Das Internet eröffnete ihnen mit wenigen Klicks die ganze Welt der Mode. Shopping 24/7. Bequem und am liebsten dort, wo es am günstigsten ist.
So setzte sich die Erkenntnis durch, dass an einer Web-Präsenz kein Weg vorbei führt. Handel und Industrie gingen online. Einige wenige Fachhändler schafften es, ihre Ladenregale ins Internet zu verlängern. Die Marken, die sich bei ihrer Retail-Expansion vielfach heillos verrannt hatten, erkannten im eigenen Webshop die bessere Alternative zum Laden in jeder Fußgängerzone. Irgendwann fingen auch Online-Händler an, stationäre Geschäfte und Showrooms zu eröffnen. So wurden Handel und Industrie zu Multichannel-Anbietern. Alle kämpften mit der zusätzlichen Komplexität, die sie sich mit den neuen Vertriebskanälen aufgehalst hatten. Und sie arbeiteten an der Vernetzung dieser Kanäle, um ihren Kunden ein nahtloses Einkaufserlebnis zu ermöglichen.
Reiz des Entdeckens: Die Allverfügbarkeit banalisierte die Mode.
Mit den Jahren wurde klar, wie sehr Digitalisierung und Vertikalisierung das Konsumentenverhalten und damit das Geschäft und die Branche verändert hatten. Alles überall und zu jeder Zeit kaufen zu können, war schön und bequem. Aber es nahm dem Shopping zugleich den Reiz des Entdeckens und Erlebens. Die Allverfügbarkeit banalisierte die Produkte so wie die permanenten Preiskämpfe sie entwerteten. Der Überfluss führte zu Überdruss. Die Trends bauten sich durch das Internet schneller denn je auf und sie verbreiteten sich in Windeseile global. Dasselbe passierte mit Fotos von eingestürzten Fabrikbauten. Fast Fashion wurde zum Synonym für das schmutzige Geschäft der Modeindustrie. Die Avantgarde versuchte es mit Trendverweigerung – die dann prompt als Normcore zum Trend ausgerufen wurde.
Die Beschleunigung des Geschäfts spielte den Vertikalen mehr denn je in die Hände. Sie waren in der Lage, die Laufsteg-Looks zum selben Zeitpunkt in den Verkauf zu bringen wie die Laufsteg-Designer. Diese setzten immer häufiger auf See now, Buy now. Neue Technologien in der Kommunikation und in der Fertigung wie etwa der 3D-Druck sorgten für eine zusätzliche Beschleunigung der Prozesse in der sogenannten textilen Pipeline. Diese “Demokratisierung” nahm der Mode ihre Distinktionsfunktion – die stilbildenden Luxus-Konsumenten drückten Zugehörigkeit und Abgrenzung immer weniger über ihre Kleidung aus (das überließen sie den Neureichen aus Russland und China), sondern über den exklusiven Urlaubsort, die “richtige” Ernährung oder die elitäre Ausbildung der Kinder. Soziale Netzwerke ermöglichten den Konsumenten die Positionierung über Markenimages, ohne deren Produkte überhaupt kaufen zu müssen. Es reichte, Motive seines Lieblingslabels auf Instagram oder Facebook zu posten oder zu liken. Die neuen Idole waren Start-up-Unternehmer aus dem Silicon Valley, die in Jeans und T‑Shirt modische Ignoranz demonstrierten. So verlor “Mode” als Treiber des Geschäfts an Bedeutung, stattdessen ging es um Bekleidung und bestenfalls um Stil.
Mode verlor als Treiber des Geschäfts an Bedeutung. Stilbildend konnte potenziell jeder sein.
Stilbildend waren schon lange nicht mehr nur Designer, sondern potenziell alle, die im world wide web Aufmerksamkeit fanden – Popstars und Schauspieler, Sportler und Blogger. Jeder, der sich irgendwo einen Namen gemacht hatte, warf eine Bekleidungslinie auf den Markt. An die Stelle des klassischen saisongetriebenen Business’ trat ein zunehmend aktionsgetriebenes Marketing. Ansonsten wurde das Geschäft mit der Masse weitgehend auf Basis von Big Data abgewickelt. Das automatisierte Bestsellermanagement führte logischerweise zu meist austauschbaren Sortimenten. Was den Preiswettbewerb zusätzlich anheizte.
Die Avantgarde, die Luxusanbieter und viele kreative Fachhändler entzogen sich der Vergleichbarkeit, indem sie neue Verkaufsargumente entwickelten: Personalisierte und massgefertigte Produkte, auf höchstem handwerklichen Niveau resourcenschonend und sozialverträglich produziert. Hightech-Stoffe und Kleider, die völlig selbstverständlich und auf sinnvolle Weise neueste Technologien integrierten. Personalisierte Services, die für die Kunden individuellen Mehrwert generierten. Kreative Anregungen und Erlebnisse, die über den Verkauf von Ware hinaus fortwirkten. Ein Marketing, das statt Suchmaschinenoptimierung Zufriedenheitsmaximierung im Fokus hatte.
So gingen die Jahre ins Land. Eines Tages traf sich die Branche wieder mal zur Fashion Week in Berlin. Das Spektakel war längst auch ein B2C-Event geworden. Alle waren Retailer geworden und verkauften direkt an die Endverbraucher. Alle – auch die lokalen Händler – nahmen für sich in Anspruch, Marke zu sein. Denn im Internet-Zeitalter kam es mehr noch als in der Offline-Welt auf den bekannten und vertrauenswürdigen Namen an.
Die einen hatten gelernt, auf vielen Kanälen zu verkaufen. Nicht wenige hatten eingesehen, dass es wirtschaftlicher war, ausschließlich online oder wie eh und je stationär zu verkaufen. Das eine wie das andere beherrschten sie exzellent. Alle nutzten das Internet zur Kundenkommunikation. Denn das Web war längst der Ort geworden, wo die Menschen sich die meiste Zeit aufhielten. So wie der Marktplatz im Mittelalter.
Viele Unternehmen waren über die Jahre auf der Strecke geblieben. Etliche neue Anbieter sind dazu gekommen. Alles war anders geworden. Nur das Wetter war all die Jahre geblieben, wie es immer war: das falsche.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Die Geschichte basiert auf dem Märchen, das ich 2003 für die TextilWirtschaft geschrieben habe.