Kassel ist nicht Venedig. Zwar veranstalten beide Städte in diesem Jahr die beiden wichtigsten Kunstevents Europas, aber die eine ist ein internationaler Touristenmagnet, die andere eine hessische Provinzstadt. Und das ist vielleicht auch gut so. Denn ein Blick auf das Programm der aktuell laufenden Biennale di Venezia zeigt, dass sich neben der Kunstszene vor allem die Luxusindustrie in Venedig selbst eingeladen hat. Von Chanel bis Diesel sind fast alle vertreten. Fondation Pinault (Kering) und Fondazione Prada unterhalten eigene Kunsthäuser. Die anderen punkten mit mondänen Diners, Art-Happenings und Sponsorships. Filmstars wie Tilda Swinton verbreiten Glamour, LVMH-Hausarchitekt Peter Marino nutzt seine Kontakte, um Geld für die Rettung historischer Gebäude einzusammeln.
Die Luxusindustrie positioniert sich als großzügiger Mäzen der schönen Künste. Venedig liefert die perfekte Kulisse dazu. Und zu kaufen gibt es auch was, wie z.B. eine Capsule-Kollektion von Bottega Veneta mit dem Schreibmaschinenhersteller Olivetti oder einfach nur einen City Guide von Louis Vuitton. Weil Kunst und Kommerz so gut zusammenpassen, wiederholen sich diese Engagements auch beim Filmfestival in Cannes, der Art Basel oder der Möbelmesse in Mailand.
Die Frage ist, ob uns dieses bekannte Erfolgsrezept aus schönen Produkten, schönen Menschen, schönen Orten und ehrvollem Engagement noch ein beeindrucktes Erstaunen oder nur noch ein gelangweiltes Zur-Kenntnis-nehmen entlockt? Ist das wirklich zeitgemäß? Ein Luxus, der in eine Zeit des Krieges in der Ukraine, einer scheinbar nicht endenden Pandemie, einer erneuten Hungersnot in Afrika und einer drohenden Klimakatastrophe passt?
Natürlich ist die Antwort auf diese Frage nicht einfach, natürlich braucht die Kunst reiche Mäzene und natürlich war weder die Pandemie noch der Krieg in der Ukraine vorhersehbar. Es erwartet auch niemand, dass die Luxusindustrie nun in Afrika Brunnen baut oder Flüchtlingslager unterhält. Viele Entscheidungen in diesem Marktsegment werden zudem auf lange Sicht getroffen. Da kann es schon mal vorkommen, dass sie von den Zeitläuften überholt werden.
Ein Beispiel dafür ist für mich die während der letzten Fashionweek eröffnete Dior-Boutique auf der Pariser Avenue Montaigne. 10.000 m², fast drei Jahre Renovierung. Das Ergebnis ist überwältigend schön und luxuriös. Der Flagshipstore, der die Größe eines Kaufhauses besitzt, beeindruckt mit mehreren Gärten, einem Restaurant, einem Café, einer Abteilung für Dekoration und vereint die ganze Welt von Dior, vom Schlüsselanhänger bis zur Haute Joaillerie. Fast jeder Raum ist anders gestaltet: Marmorkamine, edler Parkett, Holzvertäfelungen, samtige Vorhänge, moderner Stahl und unzählige Spiegel gehen mit modernem Industriedesign und zeitgenössischer Kunst eine perfekte Symbiose ein. Das hat LVMH-Hofarchitekt Peter Marino – ja, wieder mal er – toll hinbekommen.
Dennoch schleicht sich – bei mir jedenfalls – gleichzeitig zum „Wow!!“ erneut eine gewisse Langeweile ein. Ich habe auch das Gefühl, das etwas fehlt. Zum Beispiel eine Corner für Vintage- oder Second-Season, eine Abteilung für Reparaturen oder eine Pop-Up-Fläche für junge Marken des LVMH-Nachwuchspreises. Der Luxus wird hier in seiner reinsten Form und in seinen bewährten Facetten zelebriert. Eine Rezeptur, die auch noch immer bestens funktioniert, keine Frage. Bei den Dior Book Taschen, mit 2800 Euro die Einstiegspreislage im Sortiment, stehen die Leute auf alle Fälle Schlange. Und in den Medien wird die neue Boutique bestens besprochen. Bin also nur ich so kritisch? Scheinbar nicht.
Überraschungen sind gut, Verantwortlichkeit, Diversität und Nachhaltigkeit sind längst zur conditio sine qua non geworden, eine zukunftsorientierte Strategie ist ratsam, … ja, und dann?
Denn auf der Liste der wertvollsten Marken rangiert inzwischen Balenciaga ganz oben. Die Marke investierte als einer der ersten in Videogames, traute sich früh ins Metaverse und veranstaltete erst eine Modenschau mit „The Simpsons“ und dann eine zum Thema Kriegsflüchtlinge. Auch die Läden von Balenciaga schauen gerne anders aus als man es sonst in diesem Segment gewohnt ist: In Paris liegt der Flagship in einem früheren Parkhaus, dessen ehemalige Nutzung noch gut erkennbar ist. In London wurde eine Boutique komplett in pink-rosa Webpelz verpackt. Luxuriös wirkt das nicht. Überraschend ist es allemal. Zeitgemäß? Wahrscheinlich.
Klar, könnte man daraus nun ableiten: Man nehme ein paar coole Skins in Videogames, dazu NFTs und schräge Produkte (wie z.B. die Kleider mit eingebauter Autokarosserie von Loewe für den kommenden Winter), und schon ist der Luxus modern. Doch so einfach ist es nicht. Überraschungen sind gut, Verantwortlichkeit, Diversität und Nachhaltigkeit sind längst zur conditio sine qua non geworden, eine zukunftsorientierte Strategie ist ratsam, … ja, und dann?
Der CEO von Le Printemps, Jean-Marc Bellaiche, meint, dass Luxus neu definiert werden muss und Begehrlichkeit vor allem mit jungen und seltenen Marken geschaffen werden kann. Wie jetzt? Also eher Botter statt Louis Vuitton und Giada statt Gucci? Oder reicht es schon, wenn die angestammten Luxus-Labels sich einfach ein bisschen rar machen? Also, ein paar der Flagships schließen, die Partys mit Tilda plus Marino canceln, sowie auch die x‑te Capsule-Kollektion stornieren? Die Kunstbiennale in Venedig Kunst sein lassen, so wie es früher war und bei der Documenta in Kassel noch immer ist? Mir würde das gefallen.
Ach ja, zur Documenta fahre ich dieses Jahr auf alle Fälle, denn als Kurator fungiert diesmal das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa. Das ist wirklich mal was Neues! Und selten obendrein. Auch erfüllt diese Wahl alle anderen oben genannten Bedingungen an Diversity, gesellschaftliche Verantwortung etc. Mit Luxus hat das zwar wenig zu tun, mit Zeitgeist aber sehr viel.