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Mind Shift statt Vibe Shift

Berlin, Florenz, München, Instagram. Auf seinen jüngsten Exkursionen durch die Modewelt erlebte Siems Luckwaldt eine Branche mit beunruhigenden Burnout-Symptomen. Kreativ erschöpft, strategisch verunsichert, hin- und hergerissen zwischen vorgestern und übermorgen. Versuch einer Intervention.
Siemsluckwaldt
Siems Luck­waldt

Es sind atmo­sphä­ri­sche Miss­tö­ne, schein­bar acht­los geäu­ßer­te Neben­sät­ze oder für Sekun­den­bruch­tei­le ent­gleis­te Gesichts­zü­ge. Win­zi­ge Momen­te also, die den sen­si­blen Beob­ach­ter spü­ren las­sen: Hier stimmt etwas nicht. Mehr. Das gilt für Lie­bes­be­zie­hun­gen eben­so wie für eine Bran­che wie die Mode­indus­trie. Nur mani­fes­tiert sich die Mise­re weni­ger in der Streisand‘schen Kla­ge „You don‘t bring me flowers any­mo­re“, son­dern bei­spiels­wei­se in unin­spi­rier­ten NOS-Arti­keln auf dem Stand eines deut­schen Mit­tel­ständ­lers im For­tez­za di Bas­so. In kaum zu ver­ber­gen­der Lee­re am Mes­se­damm. In rat­lo­sen Panel-Dis­kus­sio­nen. In Kol­lek­ti­ons-Small­talk, bis zum letz­ten Adjek­tiv iden­tisch mit Gesprä­chen anno 2007. Im ver­zwei­fel­ten Gehan­gel von buzz word zu buzz word: Omnich­an­nel, Authen­ti­zi­tät, Influen­cer, Nach­hal­tig­keit, D2C, Meta­ver­se, Pur­po­se, Diver­si­tät … Ein zukunfts­wei­sen­des, fai­res, bes­se­res Klei­den und Wirt­schaf­ten als ste­tig län­ger wer­den­de Check­lis­te zum Abha­ken.

Die eigent­li­che Fashion und der ein zah­len­des Publi­kum mit­reis­sen­de Spaß an ihrer Krea­ti­on? Scheint neben­säch­lich gewor­den im Rin­gen um Retail­kon­zep­te, ehr­gei­zi­ge Selbst­ver­pflich­tun­gen und mit dem dich­ten Regu­la­ri­en-Dschun­gel. Jeden­falls geht man­chem PR-Ver­ant­wort­li­chen mitt­ler­wei­le die Mes­sa­ge der neu­en Sai­son deut­lich holp­ri­ger über die Lip­pen als die Trans­pa­renz-Bench­marks der eige­nen Lie­fer­ket­te und das Ver­öf­fent­li­chungs­da­tum des nächs­ten CSR-Reports. Der Ehr­geiz, in einer zuneh­mend vola­ti­len Welt der Dau­er­kri­sen und uner­sätt­li­chen Kun­den­be­dürf­nis­se die Kon­trol­le zu behal­ten, hat im kom­ple­xen Orga­nis­mus der Mode zu einem Ganz­kör­per­krampf geführt. Bei der ver­ständ­li­chen Kon­zen­tra­ti­on aufs Über­le­ben, so war mein Ein­druck in den letz­ten Wochen, ist das (Er-)Leben auf der Stre­cke geblie­ben, haben die Excel-Tabel­len end­gül­tig das Expe­ri­ment ver­drängt und die KPIs die Cool­ness unter­gra­ben.

Das sieht man auf der Stan­ge. Jen­seits der glo­bal-medi­al gehyp­ten Über-Mar­ken und Luxus-Mai­sons sind die Designs in der Mit­te oft viel zu zag­haft bis banal. Das Bes­te der 70er, 80er und 90er, mit einer Extra­do­sis Main­stream von heu­te. Und auch die heil­los dem musea­len Dan­dy­tum ver­fal­le­nen Brands haben ihren Hips­ter-Charme weit­ge­hend auf­ge­zehrt. So bewun­derns­wert ihre Ver­ses­sen­heit auf archai­sches Hand­werk und Gen­tle­man-Gran­dez­za bleibt, so wenig sind vie­le ihrer Pro­duk­te noch außer­halb der Sei­ten eines Manu­fac­tum-Kata­lo­ges und ohne Fotos der Pit­ti Pea­cocks ver­mit­tel­bar.

Besorg­nis­er­re­gen­der scheint mir, dass oft nicht ein­mal die Macher auf ihren teu­ren Mes­se­stän­den son­der­lich ange­tan wir­ken von ihren Offer­ten. Die Bran­che scheint müde, hei­ser geschrien an Durch­hal­te­pa­ro­len, ermat­tet vom sozi­al-media­len Employ­er Bran­ding und dem Zwang stän­di­ger “Grü­ner wird’s nicht”-Beteuerungen.

Bei aller Customer Centricity nämlich, dem Fokus auf „Was ihr wollt“, wissen viele Marken gar nicht mehr, was sie eigentlich wollen. Vielleicht hilft es da, mal nicht auf think big zu setzen, sondern auf think small. Und vor allem: think for yourself.

Zu viel Kos­ten­druck, zu viel Coro­na, zu viel Infla­ti­on, zu viel „Influen­cing“? Oder ist an den Burn­out-Sym­pto­men einer sich übli­cher­wei­se an sich selbst berau­schen­den Bran­che der viel zitier­te vibe shift Schuld? Jene Erwar­tungs­hal­tung vor allem jun­ger Käu­fer­schich­ten, mit ihren Out­fits jeg­li­che Lau­ne, Über­zeu­gung und Per­sön­lich­keits­fa­cet­te aus­drü­cken zu kön­nen. Jeden Tag aufs Neue und immer völ­lig anders. Ein von Trend­scouts aus­ge­mach­tes – und hem­mungs­los ver­mark­te­tes – Phä­no­men, das vie­le Ate­liers über­for­dern dürf­te, sämt­li­che Leadt­i­mes sprengt und die Hoff­nung auf lang­fris­ti­ge Mar­ken­loya­li­tät für etli­che Unter­neh­men ad absur­dum füh­ren muss. Wenn die Beschrei­bung der Gesell­schafts­seis­mo­gra­phen denn zutrifft und sich in signi­fi­kan­tem Umfang mate­ria­li­siert.

Soll­te dem­nach die Retail-Zukunft dar­in bestehen, einer ultra-wäh­le­ri­schen Kli­en­tel stän­dig per data mining in den Kopf gucken und jede ihrer Gefühls­re­gun­gen anti­zi­pie­ren zu müs­sen – vor allem: mit pas­sen­den Ange­bo­ten zum per­fek­ten Zeit­punkt und in adäqua­ter Preis­la­ge zu bedie­nen – droht vor allem im mitt­le­ren Markt­seg­ment der Kol­laps. Die­ses Kunst­stück dürf­te höchs­tens der Fast Fashion gelin­gen. Wäh­rend sich die glo­ba­len Pre­mi­um-Play­er sowie Luxus- und Sports­wear-Gigan­ten vor solch rui­nö­sen Nim­mer­sat­ten am POS in die Bubbles ihrer kos­ten­in­ten­siv auf­ge­bau­ten und bespaß­ten Fan­ge­mein­den ret­ten kön­nen.

Der Rest? Kann hof­fen, dass sich die Ora­kel irren. Oder end­lich wie­der sein ganz eige­nes Ding machen, statt hilf­los uner­reich­ba­ren Zie­len und Ziel­grup­pen hin­ter­her zu stol­pern und sich swag­ger erkau­fen zu wol­len. Bei aller Cus­to­mer Cen­tri­ci­ty näm­lich, dem Fokus auf „Was ihr wollt“, wis­sen vie­le Mar­ken näm­lich gar nicht mehr, was sie eigent­lich wol­len. Das war in Flo­renz, Ber­lin und in vie­len Look­books zu sehen. Also neben Ver­kau­fen und die Welt ret­ten, wie die ande­ren Mit­be­wer­ber auch. Viel­leicht hilft es da, einen Augen­blick nicht auf think big zu set­zen, son­dern auf think small. Und vor allem: think for yours­elf.

Ein mind shift, ein erwei­ter­tes Bewusst­sein scheint gegen­wär­tig und zukünf­tig weit­aus nöti­ger als geshif­te­te vibes. Gern orga­ni­sa­ti­ons­über­grei­fend, wenigs­tens aber bei so vie­len Ein­zel­ak­teu­ren wie mög­lich. Bei aller Trans­for­ma­ti­on näm­lich, die die­se selbst­be­wuss­te und red­se­li­ge Bran­che seit Jah­ren für sich pro­kla­miert, sieht die Wirk­lich­keit nicht nur sti­lis­tisch erstaun­lich anders aus. Scho­ckiert war ich bei­spiels­wei­se als eine Exper­tin auf der Munich Fabric dar­an erin­ner­te, dass die Fuß­spu­ren, wel­che die Mode unse­rer (Um-)Welt auf­drückt, in den wich­tigs­ten Berei­chen das 1987 ermit­tel­te Niveau nicht ver­las­sen habe. Nicht leicht zu über­prü­fen, doch selbst der Sta­tus Quo 1997 oder 2007 wäre eine gigan­ti­sche Plei­te.

Eine wei­te­re Fach­frau beton­te zudem, dass jeder Kla­mot­ten­kreis­lauf, in dem Recy­cling eine Sta­ti­on inne­hat, mehr neue Pro­ble­me erzeu­ge als bekann­te lösen wür­de. Vor allem hin­sicht­lich dafür benö­tig­ter Logis­tik, Arbeits­auf­wän­de und Res­sour­cen. Wirk­lich nach­hal­tig sei nur: nicht (über-) zu pro­du­zie­ren, nichts zu kau­fen und wenn, dann bis zur Faden­schei­nig­keit auf­zu­tra­gen oder an Freun­de wei­ter­zu­rei­chen. Irgend­wel­che „con­scious coll­ec­tions“ kamen in ihrem Vor­trag nicht als Ansatz mit welt­be­we­gen­dem impact.

Ein erfüllteres Leben is not for sale. Gleiches gilt für den “besseren“ Konsum. Klingt spaßbefreit, ist aber: wahr.

Noch eine Idee. Wie wäre es, nicht aus jeder Erkennt­nis oder mora­li­schen Nach­jus­tie­rung wie­der (nur) neue Pro­duk­te, Start-ups und Ser­vices zu bas­teln, die ohne­hin prall­vol­le Ver­triebs­ka­nä­le wei­ter ver­stop­fen. Wer sich für Nach­hal­tig­keit begeis­tert, könn­te sich ja mal nicht in anfäng­li­cher Eupho­rie mit zig Bam­bus­fa­ser-Shirts, Bio-Smoothie-Abos und Online­kur­sen über den Anbau von Soja­spros­sen in lee­ren Hafer­milch­kar­tons ein­de­cken. Neu-Mini­ma­lis­ten brau­chen mei­ner beschei­de­nen Mei­nung nach auch weder pas­tell­far­be­ne Möbel nach japa­ni­schem Vor­bild noch Ike­ba­na-Sets per Post und regal­wei­se „Less is more“-Ratgeber. Son­dern, äh, nichts.

Und nur even­tu­ell las­sen sich Acht­sam­keit und #sel­fl­ove ja ganz ohne Medi­ta­ti­ons­app, empowern­de Pfle­ge­se­rie und Jade-Eier von Goop prak­ti­zie­ren. May­be. Als jemand, der sich selbst lie­bend gern mit Equip­ment für neue Spleens ein­deckt, das bald dar­auf in Zim­mer­ecken ver­staubt, bin ich mitt­ler­wei­le ziem­lich sicher: Ein erfüll­te­res Leben is not for sale. Glei­ches gilt für den “bes­se­ren“ Kon­sum. Klingt etwas spaß­be­freit, ich weiß, aber ist, hm, wahr?

Sol­che Ein­sich­ten sind anstren­gend und brau­chen zere­bra­len Platz, kei­ne Fra­ge. Den auch ich mir hart vom Tag­werk, put­zi­gen Hun­de-Tik­Toks und Net­flix-Seri­en erkämp­fen muss. Nicht immer erfolg­reich. Was hilft: Sich nicht von Quatsch die Syn­ap­sen ver­kleis­tern zu las­sen, der ein­zig dar­auf abzielt, die Erre­gungs­öko­no­mie zu befeu­ern. Hit­zi­ge Pro­no­men-Debat­ten, die nur Nicht-Betrof­fe­ne füh­ren, dafür aber umso lau­ter. Rin­gen um den Thron im TV-Urwald, wo jeder weiß, dass der ein­zi­ge Dschun­gel­kö­nig Sim­ba heißt. Die Luxus­pro­ble­me der Kar­da­shi­ans, Hadids, Geis­sens und Leh­feld-Lind­ners. Who gives a fly­ing f*ck?! Twit­ter-Häk­chen, Bou­ti­quen im Meta-Ver­se, steu­er­flüch­ti­ge You­Tuber in Dubai, Pop­stars als Mode­schöp­fer … Kann eigent­lich alles weg, oder?!

Zu anderen zu schielen, bringt selten etwas. You do you. Für die meisten Akteure gibt es in Wahrheit und auf Dauer ohnehin keine andere Wahl. Was übrigens überhaupt nicht schlimm ist.

Wobei, über Phar­rell Wil­liams muss­te ich doch län­ger grü­beln als geplant. Nicht, weil ich zwi­schen Sinn und Unsinn sei­ner Kür zum Mens­wear-Impre­sa­rio schwank­te. Schließ­lich kura­tiert Mon­sieur Arnault sein edles Uni­ver­sum so sorg­fäl­tig wie visio­när. Nein, ich frag­te mich dies: Wenn für Wer­be­bot­schaf­ter und Ate­lier­chefs die Wäh­rung nun Welt­star heißt, was bedeu­tet das für den Mode­mit­tel­stand in Deutsch­land? Dort, wo man eher in Liefers/Loos‘, Schwein­stei­gers, Zim­mer­manns und obsku­ren Sport­ver­ei­nen denkt. Klar, Lou­is Vuit­ton spielt in einer ande­ren Liga und auch der neu­er­li­che Höhen­flug in Met­zin­gen dürf­ten drei­stel­li­ge Mil­lio­nen­be­trä­ge von übli­chen Mar­ke­ting­bud­gets ent­fernt sein. Trotz­dem: Die wach­sen­de Bedeu­tung von Ruhm aus Enter­tain­ment oder Sport für Top-Krea­ti­ve an der Unter­neh­mens­spit­ze dürf­te ein wei­te­res schwer zu erle­di­gen­des To-do für vie­le Mar­ken sein.

Zu ande­ren zu schie­len, bringt sel­ten etwas. You do you. Was immer das für Sie per­sön­lich heißt, Ihre brand, das ist rich­ti­ger und wich­ti­ger als jede Case Stu­dy, der man mit teu­rer Agen­tur­hil­fe nach­ei­fern soll. Statt­des­sen braucht es Men­schen, die sich und ihrer Sach­kennt­nis ver­trau­en, ihrem Team, ihrer Erfah­rung, ihrer Nische. Die nicht auf Teu­fel komm raus alles ska­lie­ren wol­len und bloß noch in kom­plet­ten „Pro­dukt­wel­ten“ den­ken kön­nen. Die dar­auf ver­trau­en, dass sich Qua­li­tät und Exzel­lenz durch­set­zen. Für die meis­ten Akteu­re gibt es in Wahr­heit und auf Dau­er ohne­hin kei­ne ande­re Wahl. Was übri­gens, Ach­tung: mind shift, über­haupt nicht schlimm ist.

Ich muss in den letz­ten Tagen oft an jene klei­ne Kera­mik­werk­statt, die ich vor Jah­ren in Kyo­to besuch­te. Seit rund 400 Jah­ren wer­den hier Matcha-Scha­len her­ge­stellt. Ein­zel­stü­cke, die Gene­ra­tio­nen über­dau­ern, wie gemacht für eine Zere­mo­nie. Mit Scher­ben­hau­fen vol­ler Aus­schuss, wo das Resul­tat nach dem Bren­nen den Stan­dards des Meis­ters nicht genüg­te. Obwohl die Tra­di­ti­ons­fir­ma aktu­ell von zwei Mitt­drei­ßi­gern gelei­tet wird, hält sich dort nie­mand mit Con­tent-Stra­te­gien für Social-Kanä­le und Kol­la­bos mit teafluen­cern auf. Auch ein neu­es Logo alle paar Jah­re braucht kei­ner. Vol­le Kon­zen­tra­ti­on aufs Hand­werk, ein offe­ner Geist und feins­te Ton­er­de. Das war’s. Mir scheint die­ser case öko­no­misch vali­de und für die men­ta­le Gesund­heit för­der­lich. Abwar­ten und Tee trin­ken, das wäre wirk­lich mal ein mind shift für die Mode­bran­che.

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Siems Luck­waldt

Siems Luck­waldt ist seit rund 20 Jah­ren ein Exper­te für die Welt der schö­nen Din­ge und ein Ken­ner der Men­schen, die die­se Welt mög­lich machen. Ob in sei­nem aktu­el­len Job als Life­style Direc­tor von Capi­tal und Busi­ness Punk, für Luft­han­sa Exclu­si­ve, ROBB Report oder das legen­dä­re Finan­cial Times-Sup­ple­ment How To Spend It.

Luxusprobleme bildschirmfoto umOder sei­nem eige­nen Medi­um Luxus­Pro­ble­me. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: sei­ne Sicht auf News und Trends der Bran­che, aufs moder­ne Arbeits­le­ben und Phä­no­me­ne der Pop­kul­tur. Wort­ge­wal­tig, poin­tiert, höchst­per­sön­lich. Und das zu einem gar nicht luxu­riö­sen Preis, näm­lich ab 4 Euro pro Monat. Wer­den Sie jetzt Teil einer extrem attrak­ti­ven, hoch­be­gab­ten Com­mu­ni­ty. Hier geht es direkt zum Abo

Bei­trä­ge von Siems Luck­waldt