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Modekonsum: Eine Richtigstellung

2020 haben die Menschen ganze 14 Prozent weniger Kleidung gekauft als im Jahr davor. Die bange Frage, die sich uns allen angesichts dieser Zahl stellt, ist: Hat der Verbraucher nur vorübergehend keine Mode gekauft, oder hat er sich langfristig von der Mode abgewandt? Wie viel Kleidung wird er nach der Krise kaufen? Fragt sich Carl Tillessen.
Carl Til­less­sen

Die Mode­indus­trie muss bereits jetzt für die Zeit nach der Pan­de­mie pla­nen. Des­halb braucht sie auf die­se Fra­ge eine fun­dier­te und ver­läss­li­che Ant­wort. Eine sol­che Ant­wort ist aber der­zeit schwer zu fin­den. Statt­des­sen wird über­all wild dar­auf los­spe­ku­liert. Selbst seriö­se Bera­tungs­un­ter­neh­men wie McK­in­sey brin­gen irgend­wel­che gefühl­ten Wahr­hei­ten in Umlauf. Ohne Zah­len­grund­la­ge wird ein­fach aus dem Bauch her­aus behaup­tet, die Men­schen wür­den bestimmt auch nach der Kri­se weni­ger Klei­dung kau­fen als vor­her. Denn der Rück­gang der Nach­fra­ge nach Mode im Lock­down sei – so McK­in­sey – auf die neue „Weniger-ist-mehr“-Einstellung des Kon­su­men­ten zurück­zu­füh­ren.

Die­se Ver­mu­tung, dass ein zuneh­mend kon­sum­kri­ti­scher Zeit­geist der Grund für den Umsatz­rück­gang in der Mode sei, liegt zwar nahe, weil das The­ma Über­kon­sum ver­stärkt in den Medi­en ist, seit die Jour­na­lis­ten zuhau­se fest­sit­zen und ihre Schrän­ke aus­mis­ten. Sie ist aber den­noch falsch. Die Men­schen haben im Lock­down ein­fach nur ande­re Bedürf­nis­se als unter nor­ma­len Umstän­den. Und des­halb kau­fen Sie ande­re Din­ge. Eini­ge Bran­chen haben davon enorm pro­fi­tiert. Ande­re haben enorm dar­un­ter zu lei­den. Für die Mode ist der Lock­down kata­stro­phal. Die Men­schen haben viel weni­ger Klei­dung kon­su­miert, weil sie im letz­ten Jahr, in dem sich seit März Lock­down light und Lock­down hea­vy abge­wech­selt haben, kei­ne Gele­gen­heit hat­ten, sich dar­in zu zei­gen, und nicht, weil sie Kon­sum grund­sätz­lich in Fra­ge stel­len. Denn wenn letz­te­res der Grund wäre, dann hät­ten die Men­schen ins­ge­samt weni­ger gekauft. Das Gegen­teil ist aber der Fall: 2020 war ein Rekord­jahr des Shop­pings. Die Ein­zel­han­dels­um­sät­ze (sta­tio­när und online) lagen gan­ze 5 Pro­zent über denen von 2019.

Aus die­ser Zahl zu schlie­ßen, dass bewuss­ter Kon­sum­ver­zicht kein ernst­zu­neh­men­des Phä­no­men sei, wäre aber eben­so falsch. Denn die dif­fe­ren­zier­te­ren Zah­len, die uns im DMI vor­lie­gen, lösen den schein­ba­ren Wider­spruch zwi­schen der unüber­hör­ba­ren öffent­li­chen Kon­sum­kri­tik und den Rekord­um­sät­zen im Ein­zel­han­del auf und zei­gen, dass sich dahin­ter eine Pola­ri­sie­rung unse­rer Gesell­schaft ver­birgt: Auf der einen Sei­te gibt es die intel­lek­tu­el­le Eli­te, die den Lock­down zum Anlass nimmt, um bewuss­ten Kon­sum­ver­zicht zu dis­ku­tie­ren und auch zu prak­ti­zie­ren. Auf der ande­ren Sei­te gibt es jedoch die Mehr­heit, die sich durch zusätz­li­che Frust- und Lust­käu­fe über die ent­gan­ge­nen Urlau­be, Konzert‑, Kino‑, Club- und Restau­rant­be­su­che hin­weg­trös­tet. Wäh­rend die einen also gera­de eine strik­te Kon­sum­di­ät machen, machen die ande­ren das exak­te Gegen­teil und kurie­ren ihre Lock­down-Depres­si­on durch Retail The­ra­py.

Manche sehen die Krise als eine Chance für einen Neuanfang in Bezug auf ihren Überkonsum. Die meisten sind aber einfach nur genervt und wollen ihr altes Leben zurück. Im Mainstream ist „Buy less“ jedenfalls noch nicht angekommen.

Es scheint in der Natur der radi­ka­len Maß­nah­men zu lie­gen, dass sie unse­re Gesell­schaft pola­ri­sie­ren. Auch in ande­ren Lebens­be­rei­chen reagie­ren die Men­schen auf die Beschrän­kun­gen dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt: Der eine arbei­tet im Home­of­fice bis zum Burn­out, der ande­re geht jeden Mit­tag drei Stun­den mit dem Hund spa­zie­ren. Einer hat sich auf der Yoga­mat­te ein Six­pack antrai­niert, ein ande­rer hat auf der Couch fünf­zehn Kilo zuge­nom­men. Und so wei­ter. Genau­so ist es mit unse­rem Kauf­ver­hal­ten. Man­che sehen die Kri­se als eine Chan­ce für einen Neu­an­fang in Bezug auf ihren Über­kon­sum. Die meis­ten sind aber ein­fach nur genervt und wol­len ihr altes Leben zurück. Im Main­stream ist „Buy less“ jeden­falls noch nicht ange­kom­men.

Die Beto­nung liegt hier auf „noch“. Denn sehr bald wer­den die wirk­mäch­ti­gen intel­lek­tu­el­len Eli­ten ihre wach­sen­den Zwei­fel an unse­rer Kon­sum­ge­sell­schaft und ihre Sehn­sucht nach einem mini­ma­lis­ti­sche­ren Lebens­stil in den Main­stream hin­ein­ge­tra­gen haben. Es gibt gute Grün­de, war­um selbst klas­si­sche Fast-Fashion-Anbie­ter wie Hen­nes & Mau­ritz in den letz­ten Jah­ren vor­sorg­lich Kon­zep­te wie ARKET an den Start gebracht haben, die – sowohl von ihrer Qua­li­tät als auch von ihrem Design – etwas lang­le­bi­ger sind. In sol­chen Kon­zep­ten liegt für die Mode in den kom­men­den Jah­ren ein enor­mes Poten­ti­al.

Carl Til­les­sen ist Autor von “Kon­sum – War­um wir kau­fen, was wir nicht brau­chen”