Die Modeindustrie muss bereits jetzt für die Zeit nach der Pandemie planen. Deshalb braucht sie auf diese Frage eine fundierte und verlässliche Antwort. Eine solche Antwort ist aber derzeit schwer zu finden. Stattdessen wird überall wild darauf losspekuliert. Selbst seriöse Beratungsunternehmen wie McKinsey bringen irgendwelche gefühlten Wahrheiten in Umlauf. Ohne Zahlengrundlage wird einfach aus dem Bauch heraus behauptet, die Menschen würden bestimmt auch nach der Krise weniger Kleidung kaufen als vorher. Denn der Rückgang der Nachfrage nach Mode im Lockdown sei – so McKinsey – auf die neue „Weniger-ist-mehr“-Einstellung des Konsumenten zurückzuführen.
Diese Vermutung, dass ein zunehmend konsumkritischer Zeitgeist der Grund für den Umsatzrückgang in der Mode sei, liegt zwar nahe, weil das Thema Überkonsum verstärkt in den Medien ist, seit die Journalisten zuhause festsitzen und ihre Schränke ausmisten. Sie ist aber dennoch falsch. Die Menschen haben im Lockdown einfach nur andere Bedürfnisse als unter normalen Umständen. Und deshalb kaufen Sie andere Dinge. Einige Branchen haben davon enorm profitiert. Andere haben enorm darunter zu leiden. Für die Mode ist der Lockdown katastrophal. Die Menschen haben viel weniger Kleidung konsumiert, weil sie im letzten Jahr, in dem sich seit März Lockdown light und Lockdown heavy abgewechselt haben, keine Gelegenheit hatten, sich darin zu zeigen, und nicht, weil sie Konsum grundsätzlich in Frage stellen. Denn wenn letzteres der Grund wäre, dann hätten die Menschen insgesamt weniger gekauft. Das Gegenteil ist aber der Fall: 2020 war ein Rekordjahr des Shoppings. Die Einzelhandelsumsätze (stationär und online) lagen ganze 5 Prozent über denen von 2019.
Aus dieser Zahl zu schließen, dass bewusster Konsumverzicht kein ernstzunehmendes Phänomen sei, wäre aber ebenso falsch. Denn die differenzierteren Zahlen, die uns im DMI vorliegen, lösen den scheinbaren Widerspruch zwischen der unüberhörbaren öffentlichen Konsumkritik und den Rekordumsätzen im Einzelhandel auf und zeigen, dass sich dahinter eine Polarisierung unserer Gesellschaft verbirgt: Auf der einen Seite gibt es die intellektuelle Elite, die den Lockdown zum Anlass nimmt, um bewussten Konsumverzicht zu diskutieren und auch zu praktizieren. Auf der anderen Seite gibt es jedoch die Mehrheit, die sich durch zusätzliche Frust- und Lustkäufe über die entgangenen Urlaube, Konzert‑, Kino‑, Club- und Restaurantbesuche hinwegtröstet. Während die einen also gerade eine strikte Konsumdiät machen, machen die anderen das exakte Gegenteil und kurieren ihre Lockdown-Depression durch Retail Therapy.
Manche sehen die Krise als eine Chance für einen Neuanfang in Bezug auf ihren Überkonsum. Die meisten sind aber einfach nur genervt und wollen ihr altes Leben zurück. Im Mainstream ist „Buy less“ jedenfalls noch nicht angekommen.
Es scheint in der Natur der radikalen Maßnahmen zu liegen, dass sie unsere Gesellschaft polarisieren. Auch in anderen Lebensbereichen reagieren die Menschen auf die Beschränkungen diametral entgegengesetzt: Der eine arbeitet im Homeoffice bis zum Burnout, der andere geht jeden Mittag drei Stunden mit dem Hund spazieren. Einer hat sich auf der Yogamatte ein Sixpack antrainiert, ein anderer hat auf der Couch fünfzehn Kilo zugenommen. Und so weiter. Genauso ist es mit unserem Kaufverhalten. Manche sehen die Krise als eine Chance für einen Neuanfang in Bezug auf ihren Überkonsum. Die meisten sind aber einfach nur genervt und wollen ihr altes Leben zurück. Im Mainstream ist „Buy less“ jedenfalls noch nicht angekommen.
Die Betonung liegt hier auf „noch“. Denn sehr bald werden die wirkmächtigen intellektuellen Eliten ihre wachsenden Zweifel an unserer Konsumgesellschaft und ihre Sehnsucht nach einem minimalistischeren Lebensstil in den Mainstream hineingetragen haben. Es gibt gute Gründe, warum selbst klassische Fast-Fashion-Anbieter wie Hennes & Mauritz in den letzten Jahren vorsorglich Konzepte wie ARKET an den Start gebracht haben, die – sowohl von ihrer Qualität als auch von ihrem Design – etwas langlebiger sind. In solchen Konzepten liegt für die Mode in den kommenden Jahren ein enormes Potential.
Carl Tillessen ist Autor von “Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen”