Retouren sind ein bekanntes Problem. Für die Umwelt und die Gewinn- und Verlustrechnung. Für die Umwelt, weil Retouren allein in Deutschland mehr als 40.000 Tonnen CO² pro Jahr verursachen. Für die Gewinn- und Verlustrechnung, weil zum Beispiel bei Bekleidung aus einer teuer gewonnenen Bestellung im Schnitt weniger als die Hälfte des Umsatzes übrig bleibt und man zudem auf Prozess- und Wertminderungskosten von bis zu 20 Euro pro Retoure sitzen bleibt.
Die Forschungsgruppe Retourenmanagement der Universität Bamberg schätzt, dass im Jahr 2021 allein in Deutschland rund 530 Millionen Pakete zurückgeschickt wurden. Bei angenommenen Kosten von nur 15 Euro pro Retoure entspricht das fast 8 Milliarden Euro entgangenem Betriebsergebnis in den Unternehmen. Je höher der Textilanteil am Geschäft, je modischer die Ware, desto größer das Problem. Die Frage, wie die Retourenquote gesenkt werden kann, ist daher so alt wie der Distanzhandel selbst. Für die Marken hat die Auslagerung des Problems an die Händler lange Zeit funktioniert, doch mit steigendem D2C-Anteil ist das vorbei.
Die Motivation, steigende Kosten an den Kunden weiterzugeben, ist nachvollziehbar. Und jede ‘Zalando-Party’, jeder offensichtliche Missbrauch lässt die Emotionen neu hochkochen. Aber die wenigsten Kunden retournieren in missbräuchlicher Absicht oder aus Spaß am Retourenprozess.
Um zu verstehen, warum Gebühren für Retouren der falsche Weg sind, lohnt sich ein Blick auf die Gründe fürs Zurücksenden: Mit über 60 Prozent ist der mit Abstand wichtigste Grund für die Rücksendung eines Artikels die Größe und Passform. Inkonsistente Größen von Marke zu Marke, aber auch innerhalb einer Marke je nach Produktionscharge, Material, Saison oder Lieferant sind der wenig goldene Standard einer ganzen Branche. Kreative Passformen tragen zur Verwirrung der Kunden bei. Zu alledem kommt vielfach schlechte Qualität.
Ein wesentlicher Teil des Problems liegt also beim Anbieter, bei der Marke. Umso bemerkenswerter ist es, dass mit Zara oder H&M ausgerechnet Marken anfangen, Gebühren für Retouren zu erheben. Das ist so, als würde die Bahn bei Verspätungen einen Zuschlag vom Fahrgast verlangen.
Laut einer Studie des ECC Köln brechen fast 60 Prozent der Nutzer den Kauf ab, wenn Retourengebühren drohen. Zudem führt die als ungerecht empfundene Bestrafung zu einem Vermeidungsverhalten in der Zukunft und damit zur Abwanderung von Kunden. Auch der Effekt der empfundenen Ungerechtigkeit auf künftigen Umsatz ist nicht neu, schon vor mehr als 10 Jahren wurde die wissenschaftliche Analyse dieses Zusammenhangs im Journal of Marketing veröffentlicht. Retourengebühren führen also kurzfristig zu Erlösen, langfristig dürfte der Schaden den Ertrag deutlich übersteigen – nicht zuletzt, weil es immer genügend Alternativen ohne Retourengebühren geben wird.
Digitale Plattformen hört man ob solcher Manöver von stationär-sozialisierten Playern leise kichern. Sie bieten schließlich mehr Auswahl an Vergleichbarem, wenn nicht sogar das Gleiche, aber ohne Strafzölle. Und vor allem dürfte das Management bei SHEIN, dem neuen digitalen Umsatz-Magnet im Value-Segment, vor Lachen kaum in den Schlaf kommen. Die Chinesen hatten zwar auch vorher schon den einstigen Platzhirsch aus Schweden auf seinem angestammten Spielfeld der schnellen, billigen Mode abgehängt. Mit Service-Strafgebühren unterstützt man aber ungewollt die Festigung der neuen Rangreihenfolge.
Der mit Abstand größte Hebel ist und bleibt das Produkt. Konsistente Größen und Passformen wären ein großer Lösungsbeitrag. Darauf zu hoffen, ist leider naive Zeitverschwendung.
Kunden wissen, dass Logistik nicht zum Nulltarif zu haben ist. Reziprozität, die Psychologie der Beteiligung für etwas Empfangenes, funktioniert. Gestaffelte Versandkosten sind daher ein sinnvollerer Weg, die Wirtschaftlichkeit der Versandlogistik zu verbessern, ohne in die Falle der als unfair empfundenen Retourengebühr zu tappen.
Die Liste der Einflussmöglichkeiten auf die Retourenquote ist lang. Und natürlich ist neben dem Sortiment, geeigneten Produktbildern und ‑informationen auch die gezielte Steuerung der Zahlungsarten ein effektiver Hebel auf das Thema – Kauf auf Rechnung hat zum Beispiel die höchste Retourenquote.
Nein, der zentrale und mit Abstand größte Hebel ist und bleibt das Produkt. Aus Effizienz in großen Mengen massenproduziert soll es auf individuelle Körper passen. Einheitliche und konsistente Größen und Passformen innerhalb einer Marke und zwischen den Marken wären ein großer Lösungsbeitrag. Darauf zu hoffen, ist leider naive Zeitverschwendung.
Die Vermessung des Nutzers – ob ein- oder mehrdimensional, ob mit oder ohne virtual reality – genießt als scheinbar einfachste Antwort auf das Problem aktuell zwar mediale Aufmerksamkeit, greift aber zu kurz. Denn ohne die Verknüpfung der Körpermaße mit den konkreten Maßen des jeweiligen Produktes fehlt offensichtlich der zweite Teil der Gleichung. Aber auch dafür gibt es inzwischen erste KI-basierte, ganzheitliche Lösungen jenseits reiner Frontend-Gimmicks. Man muss es nur wollen und machen.
Die kommerziellen Anreize für Hersteller und Marken, sich mit solchen Lösungen zu beschäftigen und dadurch auch ihre Händler zu unterstützen, sind eigentlich groß genug. Dass passende Größen und Passformen nicht nur Kosten sparen und die Umwelt schonen, sondern auch Teil eines bindenden Markenerlebnisses sind, sollte zudem dazu anregen, an den richtigen Stellen anzusetzen. Retourengebühren gehören allerdings nicht dazu.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com