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Krawatte im Kopf

Wenn eine Unternehmenskultur neue Strategien gerne zum Frühstück isst, dann ist sie in einer Welt ständigen Wandels schlichtweg nicht überlebensfähig. Transformation beginnt beim Top Management. Weg mit der Krawatte und rein in den Hoodie für den Zoom-Call oder den nächsten LinkedIn-Beitrag reicht nicht, meint Stefan Wenzel. 
Stefan Wenzel

Auch ohne Pandemie ist die Gesamtlage schon sportlich. Das iPhone kam zum Beispiel 2007 auf den Markt, und in den 14 Jahren, die das her ist, erleben wir die oft zitierte, aber abstrakte exponentielle Entwicklung sehr konkret (und ja, die Entwicklung geht exponentiell weiter). Wir erledigen schon fast alles auf unseren Mobiltelefonen. Zugleich kämpft eine steigende Anzahl an Plattformen, Services und Apps mit allen Mitteln um unsere gleichbleibende Wachzeit pro Tag. Siri und Alexa muten zwar noch etwas dümmlich an, immer öfter sagen sie uns aber morgens das Wetter oder erzählen uns einen Witz. Fotos und Scans machen wir, ohne es zu merken, mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz in unserem Smartphone. Oma und Opa sind in der WhatsApp-Gruppe der Familie die aktivsten Mitglieder, und unsere Kinder sind in den Sozialen Medien und via Zoom & Co. im permanenten Austausch mit der Welt. So oder so ähnlich ist nicht nur unser Leben, sondern auch das unserer Kunden*innen und Mitarbeiter*innen.

Die Geschwindigkeit des Wandels zeigt sich auch an der Halbwertzeit von Unternehmen. Lag die Zugehörigkeit zum S&P50 1960 noch bei 60 Jahren, so liegt sie heute bei zehn. Wer erinnert sich noch an Blackberry? Die hatten 2009 ihr erfolgreichstes Geschäftsjahr, und vier Jahre später ist ihr Markt durch das iPhone um 99% eingebrochen. Oder Blockbuster? Die hatten 2004 ihr Rekordjahr und waren dank Netflix & Co. 2010 insolvent.

Firmen ohne flexible technische Infrastruktur und geeignetes Datenmodell für den Instrumentenflug werden erst überholt, dann verdrängt. Technologie‑, Daten-Kompetenz und analytische Fähigkeiten werden damit auch in unserer strukturell etwas langsameren Modebranche anekdotischer Evidenz und Bauchgefühl den Rang ablaufen. Kreativität bleibt essentiell wichtig, wird aber systematisierter, um den Anteil des Zufalls kontinuierlich zu minimieren. Wenn der Großteil der Aufmerksamkeit der Kund*innen auf ständig wechselnden sozialen Plattformen gebunden ist, hilft eine schöne Print-Anzeige oder der teure TV-Spot schlicht nicht mehr.

Zeitgleich sind die nächsten Generationen als Kund*innen und Mitarbeitenden in unseren Unternehmen, erwarten von uns als Arbeitgeber mehr als einen Schreibtisch mit Drehstuhl und stellen für uns auch als Marktteilnehmer Grundsätzliches zu Themen wie Nachhaltigkeit infrage. Das führt zum Beispiel dazu, dass auf einmal Fast Fashion in der Mode zum Verbrennungsmotor der Automobilindustrie wird: Heute noch weit verbreitet, aber klar aus der Zeit. Und es ist nur eine Frage der selbigen, bis sich Kundenverhalten in der breiten Masse der gebotenen Vernunft weiter annähert.

Permanent besser, permanent neu, immer relevanter. Darum geht es also. Und das hat profunde Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir arbeiten und wie wir unsere Firmen führen. Untersuchungen zeigen, höchste Motivation bei Wissensmitarbeiter*innen entsteht, wenn hohe Autonomie und anerkennende Herausforderungen gegeben sind und sie einen tieferen Sinn in ihrer Tätigkeit erkennen. Das fordert Führungskräfte, die sich als Coach und Architekt von effektiven Netzwerken verstehen und nicht als Spitze einer Hierarchie, die Ansagen macht. Gerade mit Autonomie tun wir uns aber ja gerne so schwer. Wir wissen doch schließlich am besten, was zu tun ist und vor allem, wie es zu tun ist. Einkauf, Marketing, Design? Kann man alles. Ein Irrglaube.

Der oder die CEO ist stets auch ‚Chief Culture Officer‘, und als solches liegt es bei ihm bzw. ihr, neue kulturprägende Spielregeln zu entwickeln, zu etablieren und vor allem selbst vorzuleben. Deshalb endet der Prozess beim Recruiting der richtigen Mindsets für die Zukunft, beginnt aber erst einmal beim Top Management.

Leadership besteht darin, die besten Leute zu rekrutieren, ihnen die geeigneten Ressourcen zur Verfügung zu stellen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Teams brauchen Klarheit hinsichtlich des Ziels oder zu lösenden Problems, aber keine Lösungsvorgabe zur Umsetzung. Kundenerlebnisse sind immer horizontale Phänomene, d.h. zahlreiche Fachbereiche wirken zusammen auf den Kunden ein. Es geht darum, abteilungsübergreifende Teams zusammenzustellen, die die wesentlichen Kundenerlebnisse ganzheitlich optimieren und an gemeinsamen Kennzahlen den Erfolg quantifizieren können.

An der perfekten Neukundengewinnung arbeiten in zeitgemäß aufgestellten Unternehmen zum Beispiel das Marketing (Zielgruppe, Kanäle, Content-Strategie, Messung, Tests etc.), der Einkauf (Neukunden-optimierte Sortimente, Warengruppen, Artikel, Preislagen etc.), das CRM (Onboarding-Programm, Folgeaktivierung, Kohorten-Größe und ‑Qualität etc.), Product & Tech (Neukunden-optimierte Landingpages, Registrierungsprozesse, Nutzer-Profile etc.), der Kunden-Service (Input aus Kunden-Feedback zu allen Details, spezifische Programme bei Neukunden-Beschwerden etc.) und die Logistik (Neukunden-spezifische Paketbeilagen wie Willkommens-Brief vom Gründer, Prio-SLAs für den Versand etc.).

Es ist erstaunlich, wie gut die Lösungswege diverser, cross-funktionaler Teams sind, wenn man die Experten nur mal in Ruhe und mit echter Autonomie ausgestattet arbeiten lässt. Agile Arbeitsformen, die komplexe Probleme in verdaubare Sprints zerlegen, Priorisierungs- und Steuerungsmethoden wie OKRs (Objectives & Key Results), aber auch kollaborative Tools wie Microsoft 365, Confluence, Trello u.ä. werden auf der Mission helfen.

Wenn eine Unternehmenskultur neue Strategien zum Frühstück isst, dann stimmt diese Kultur in einer Welt ständigen Wandels schlichtweg nicht. Der oder die CEO ist stets auch ‚Chief Culture Officer‘, und als solches liegt es bei ihm bzw. ihr, neue kulturprägende Spielregeln zu entwickeln, zu etablieren und vor allem selbst vorzuleben. Deshalb endet der Prozess beim Recruiting der richtigen Mindsets für die Zukunft, beginnt aber erst einmal beim Top Management. Weg mit der Krawatte und rein in den Hoodie für den Zoom-Call oder den nächsten LinkedIn-Beitrag reicht nicht. Die Krawatte muss raus aus dem Kopf.

Stefan Wenzel ist seit 22 Jahren im digitalen Handel unterwegs und gehört zu den profiliertesten Köpfen der Branche. Seine Vita beinhaltet u.a. Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. www.stefanwenzel.com