Was bringt Innovation in die Bekleidung? Natürlich und vor allem die Mode. Der stete Wechsel von Trends ist eine wesentliche Geschäftsgrundlage für ein Business, das allein dem deutschen Einzelhandel jährlich weit über 50 Milliarden in die Kassen spült. Es ist zugleich ein fragiles Fundament. Denn wenn wir ehrlich sind, dann tut die Branche ja nur so, als erfinde sie sich von Saison zu Saison neu. Da lobe ich mir einen Anbieter wie Uniqlo, der gar nicht erst von Mode, sondern von Lifewear spricht, der gute Produkte machen will, statt einem vermeintlichen Trend hinterher zu hecheln. Man hat eh manchmal den Eindruck, dass sich die Mode weitgehend darauf beschränkt, bereits Gesehenes neu aufzulegen, zu variieren und neu zu kombinieren. Das geht spätestens seit den 90er Jahren so. Mittlerweile sind wir so weit, dass wir die 90er Jahre kopieren. Neulich habe ich einen New Balance-Sneaker im Laden gesehen, exakt das Modell, das ich vor 20 Jahren schon mal gekauft habe.
Dabei ist es keineswegs so, dass es keine Veränderung im Bekleidungsverhalten gibt. Der große langfristige Wandel in der Mode besteht sicherlich im Siegeszug des Informellen, des Sportiven, von Casualwear. Da mag die HAKA noch so sehr die Rückkehr des Anzugs propagieren. Am Ende ist das Arbeitsbekleidung für Banker und Berater. Wenn die Söhne Krawatte tragen, dann handelt es sich um eine ziemlich kümmerliche Absetzbewegung von den Vätern, bei denen sich der offene Hemdkragen auf breiter Front durchgesetzt hat. Und Chanel zeigt Denim-Jäckchen im Schaufenster. Auch wenn es immer wieder angesagte Produkte und modische Wellen gibt, denen sich mehr oder weniger viele anschließen – stilistisch sind wir längst in der Sackgasse des Anything goes angelangt.
Wirklich Neues bezog die Bekleidung immer wieder aus den Stoffen. Neue Mischungen, neue Funktion, neue Trageeigenschaften lieferten in den vergangenen 20 Jahren stets neue Verkaufsargumente. Hier steckt auch einer der Gründe für den Siegeszug der Sport-Marken. Neben den zeitgeistkonformen Werten, die Adidas, Nike & Co transportieren.
Seit den 00er Jahren wurden neue Werte wichtig: Nicht nur der richtige Style entscheidet, sondern es kommt für eine wachsende Zahl von Menschen auch auf sozial und ökologisch korrekte Produktions- und Vertriebsbedingungen an. Das Internet fördert das Wissen um die Probleme und die Sensibilität für die Nachhaltigkeits-Thematik. Das Extrem in Sachen Transparenz markiert sicherlich Bruno Pieters HonestBy-Projekt. Diese Entwicklung ist noch lange nicht am Ende, sondern gewinnt mit jedem einstürzenden Altbau in Bangladesch an Relevanz.
Die Pelzmode der vergangenen Winter ist übrigens kein Gegentrend zur Nachhaltigkeit, sondern bestätigt im Gegenteil dieses neue Bewußtsein: Wer Pelz trägt, weiß, dass er politisch unkorrekt handelt – wahrscheinlich liegt darin sogar ein besonderer Thrill.
Was sich seit ein paar Jahren ebenfalls aufbaut, ist die Integration von Technologie und Bekleidung. Hier tummelt sich womöglich die wahre Avantgarde. Profashionals hat bereits spannende Projekte vorgestellt, wie zum Beispiel die LED-T-Shirts von Cutecircuit, das 3D-Printer-Kleid von Shapeways, das Recycling-Konzept von Schmidttakahashi oder Trikoton, die Strickmuster aus Tönen entwickeln.
Die ersten Wearables wurden überwiegend belächelt. Jacken mit eingebautem iPod und Taschen mit Sonnenkollektoren zum Aufladen von Batterien – das war eher was für Liegeradfahrer. So richtig ernst genommen hat die Industrie diese Bewegung bislang jedenfalls nicht.
Doch das könnte sich ändern. Denn der technische Fortschritt ist rasant. „Eines Tages werden wir überrascht sein, dass es zur Computer-Nutzung gehörte, in Taschen danach zu suchen“, sagte Google-Gründer Larry Page neulich der SZ. „Wir sind erst bei einem Prozent davon, was möglich ist.“ Die Wissenschaft arbeitet an immer kleineren Chips, an automatisierter Kontexterkennung und praktikablen Energieversorgungslösungen, Spracherkennung und Gestensteuerung gibt es heute schon. Mit dem Nike Fuel Band tracken Sportbegeisterte ihren Trainingszustand. Und demnächst rückt uns Apple gerüchteweise mit einer iWatch auf den Pelz.
Google Glass könnte das Leuchtturmprojekt werden, das Wearable-Technologien zur Massenfähigkeit verhilft. Wie beim iPhone wird es dabei sehr auf das möglichst attraktive App-Ökosystem ankommen. Im Silicon Valley stehen die Kapitalgeber zurzeit Schlange, um die Entwicklung solcher Lösungen zu finanzieren. Und es wird zweitens auf den sozialen Benefit ankommen, den die Wearables bieten. Das ist das Spielfeld, auf dem das Modebusiness sich tummelt. Modemarken verstehen sich darauf, Identifikations- und Distinktionspotenziale zu generieren. Anders gesagt: Google Glass und andere Wearables müssen sexy machen; sie werden sich nicht durchsetzen, wenn man Scheisse damit aussieht.
Lange Rede, kurzer Sinn – die kommende Woche ist „Science Fashion Week“ bei Profashionals: Bis Freitag geht es um revolutionäre Entwicklungen im Bereich der Wearables. Darunter natürlich skurille Gadgets und Science Fiction-Kram, wo sich eine Marktchance nicht zwingend aufdrängt. Aber durchweg kreative Einfälle, die zeigen, woran Designer und Techniker arbeiten und wieviel Innovation selbst bei so ausgereizten Produkten wie Hosen und T‑Shirts noch drin ist.
Morgen geht's los mit Reiz- und Notwehr-Wäsche.
Und hier die komplette Serie:
Safe Suits, Funkel-Röcke und Anti-Drohnen-Burkas
Printer-Bikini, Touchscreen-Shirts und Roboter-Kleider
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