Samstag, 27. Juni. „Kleidung degeneriert zum Wegwerfprodukt“, klagt Martin Wittmann in der FAZ. Normalerweise müsste sich der Mann darüber freuen. Denn er ist Entsorgungsunternehmer und lebt vom Müll anderer Leute. Aber die Zeiten sind nicht normal. In der Corona-Krise haben die Deutschen ihre Kleiderschränke ausgemistet. Und das in einem Ausmaß, dass das Altkleider-Sammelsystem dem Kollaps nahe ist. Denn die üblichen Weiterverkaufswege nach Afrika und Osteuropa sind wegen der Pandemie blockiert. Gleichzeitig eignet sich ein Gutteil der Ware nicht für Recycling. Schuld sind die Fast Fashion-Anbieter mit ihrem hohen Anteil an Chemiefasern und Mischfasern. Statt immer mehr immer schneller in die Läden zu bringen, sei ‚Design for Recycling‘ gefordert, sagt Wittmann, der auch Vizepräsident des Bundesverbandes Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) ist.
Statt immer nur aufs Preisschild sollten die Konsumenten also vielleicht öfter mal aufs Pflegeetikett schauen.
Greenpeace hat in einer Studie vor fünf Jahren mal ermittelt, dass in Deutschland im Durchschnitt jeder Erwachsene 95 Kleidungsstücke besitzt, Unterwäsche und Socken nicht mitgerechnet. In deutschen Schränken lagern damit etwa 5,2 Milliarden Kleidungsstücke. Jedes fünfte Teil, immerhin eine Milliarde, wird so gut wie nie getragen, eine weitere Milliarde nur sehr selten.
Das ist so in etwa das Potenzial für Sellpy. Die schwedische Second Hand-Online-Plattform ist diese Woche in Deutschland gestartet. Das 2014 gegründete Unternehmen hat seinen Umsatz im vergangen Jahr um 72 Prozent gesteigert (auf umgerechnet 19 Millionen Euro). Im Oktober wurde die Firma von H&M übernommen. Der Fast Fashion-Konzern spielt damit nun also auch im Altkleider-Segment mit. Neue Konkurrenz für Martin Wittmann.
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Mittwoch, 1. Juli. Heute wird die Mehrwertsteuer gesenkt, für ein halbes Jahr. Das kostet den Steuerzahler voraussichtlich an die 20 Milliarden. Ob es den gewünschten Effekt für den Konsum bringt, wird man sehen. Viele große Retailer (Supermärkte, Food-Discounter, aber auch Deichmann, Primark, Amazon oder H&M) haben jedenfalls angekündigt, die Preissenkung mitzumachen. Das ergibt im Einzelfall zwar wenig Sinn (die Dosentomaten bei Lidl kosten jetzt 38 statt 39 Cent). Aber nicht zu reagieren, kann man sich als Anbieter aus Reputationsgründen nicht leisten. So einen Geiz finden die Kunden nämlich gar nicht geil. Die Preise für Textilien gehen aktuell eh in den Keller, und das bedeutend stärker als die drei Prozentpunkte.
Deshalb haben die Cleveren die Gesetzesänderung für PR-Aktionen genutzt und die Preissenkungen beispielsweise mit Spendenaktionen verbunden. Oder wie Kik gleich mehrere „Mehr-Wert-Wochen“ mit Preisnachlässen von 30 Prozent angekündigt. „Mehr-Wert-Wochen“, das klingt gut, ist aber natürlich Quatsch, denn mit fallenden Preisen steigt ja nicht der Wert der Ware. Den Kik-Kunden können solche semantischen Spitzfindigkeiten aber egal sein.
Pünktlich zum Inkrafttreten des Konjunkturpakets meldet das Statistische Bundesamt übrigens ein Riesen-Plus für den Einzelhandel im Mai. Im ersten Monat nach dem Lockdown seien die Umsätze preisbereinigt um 13,9 Prozent gestiegen, der stärkste Zuwachs seit Beginn der Erhebung im Jahr 1994 und weitaus mehr als alle Experten erwartet haben. "Damit konnte der Einzelhandel die Corona-bedingten Umsatzeinbußen der Vormonate wieder ausgleichen", heißt es in der Mitteilung des Bundesamtes. Per Ende Mai aufgelaufen liegt der Einzelhandel insgesamt jetzt real 3,8 Prozent im Plus. Gottseidank sind die Statistiker so langsam, sonst hätte sich die Regierung das mit dem Konjunkturpaket nochmal überlegt.
Hinter dem Plus stehen freilich extrem verschiedene Branchenverläufe. So ist der Onlinehandel im Mai um 28,7 Prozent gewachsen. Textilien, Schuhe und Lederwaren blieben dagegen 22,6 Prozent unter Vorjahr.
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Am Abend die Nachricht, dass die LDT Nagold ihre Selbstständigkeit aufgibt. Die vom Bundesverband des Deutschen Textileinzelhandels (BTE) getragene Schule, an der Generationen von Modehändlern ihr Handwerk gelernt haben, will künftig mit der FH Reutlingen kooperieren. Für die Studierenden muss das nichts Schlechtes bedeuten, im Gegenteil. Reutlingen und Nagold sollen „als regionales Zentrum für textile Ausbildung in Deutschland auf exzellentem internationalem Niveau zusätzlich gestärkt" werden, heißt es. Aber auch finanzielle Gründe werden eine Rolle gespielt und Corona die Entscheidung womöglich beschleunigt haben.
Insofern ist die Nachricht schon auch ein Menetekel: Die Branche kann sich die eigene Schule nicht mehr leisten.
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Donnerstag, 2. Juli. Die TW zieht eine 100-Tage-Bilanz der Corona-Krise, und die ist brutal: Galeria Karstadt Kaufhof, Esprit, Hallhuber, Benvenuto, Sinn, Dielmann, Bonita, Reserved, – im Schutzschirmverfahren. McTrek, WKS in Wolfsburg, Intersport Eisert, die Huber-Gruppe, die Tom Tailor Holding, Wäschefilialist Herzog & Bräuer, Colloseum, Airfield, AppelrathCüpper – insolvent. Panorama, Premium und etliche internationale Messen – abgesagt. Marc Cain, Gerry Weber, Gardeur, Brax, Swarovski, S. Oliver, die Bestseller-Gruppe – Entlassungen. Und das sind nur die öffentlich bekannten Nachrichten.
Zur Bilanz gehört indes auch, was diese Woche Exciting Commerce berichtet. Demnach sind die Online-Aktien massiv im Höhenflug. Von wenigen Ausnahmen abgesehen konnten die Kurse der im GLORE50-Fonds gelisteten Digitalen im Corona-Quartal zulegen, der Fonds insgesamt um 67 Prozent gegenüber den ersten drei Monaten 2020. Seit Jahresanfang konnten die 42 Top-Player im globalen Online-Handel um 46% zulegen, nach 35 Prozent im Vorjahr. Die Hälfte der Unternehmen liegt aktuell auf Rekordniveau.
Es ist schon tragisch: Viele dieser Player verdienen kein oder nur wenig Geld. Trotzdem steigt ihr Marktwert. Das muss mit der Schwäche der Konkurrenz zu tun haben.