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Reality Check

Wenn Arbeitsplätze in Gefahr sind, sollte man aufhören, übers Wetter zu reden, meint Carl Tillessen.
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Carl Til­les­sen

Gale­ria Kar­stadt Kauf­hof, P&C Düs­sel­dorf, Ger­ry Weber, Ahlers, Görtz, Hall­hu­ber, Reno, Bet­ter Rich… Die deut­sche Mode­bran­che erlebt gera­de eine bei­spiel­lo­se Wel­le von furcht­ba­ren Insol­ven­zen. Men­schen ver­lie­ren ihre Exis­tenz, die Auf­bau­ar­beit von Gene­ra­tio­nen wird zer­stört, Unter­neh­men wer­den zer­schla­gen, und über Jahr­zehn­te errun­ge­nes Kön­nen und Wis­sen gehen ver­lo­ren.

Es ist nur mensch­lich, dass man ange­sichts von so viel Unglück nach Erklä­run­gen sucht, die einem ein biss­chen Beru­hi­gung und Trost spen­den. So wird zum Bei­spiel immer wie­der reflex­ar­tig unter­stellt, die betrof­fe­nen Unter­neh­men sei­en durch ein fal­sches Sor­ti­ment in Schief­la­ge gera­ten. Denn in die­ser Annah­me liegt für alle die Beru­hi­gung, sich durch ein rich­ti­ges Sor­ti­ment in Sicher­heit brin­gen zu kön­nen. Vor allem jedoch hat man sich all­ge­mein auf das Nar­ra­tiv geei­nigt, die Schwie­rig­kei­ten sei­en dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass der Mode­kon­sum durch den Ukrai­ne­krieg und die Infla­ti­on gebremst wer­de. Beson­ders, wenn man selbst gera­de in Schwie­rig­kei­ten ist, liegt dar­in der Trost, dass es im Moment für alle schwie­rig sei, in abseh­ba­rer Zeit aber auch wie­der bes­ser wer­de. Man glaubt an die­ses Nar­ra­tiv, weil man dar­an glau­ben will.

Wenn sich alle in die­ser Bran­che gegen­sei­tig bestä­ti­gen, was sie ger­ne hören wol­len, dann ist das sicher sehr ange­nehm. Es ist aber auch sehr gefähr­lich, denn – wie in der Medi­zin – füh­ren auch hier fal­sche Dia­gno­sen zu fal­schen The­ra­pien.

Tat­säch­lich haben die Deut­schen in den letz­ten andert­halb Jah­ren trotz Ukrai­ne-Krieg und trotz Infla­ti­on so viel Geld für Mode aus­ge­ge­ben wie noch nie zuvor. Nach den uns bei DMI vor­lie­gen­den Zah­len haben die Schwie­rig­kei­ten weni­ger kon­junk­tu­rel­le als struk­tu­rel­le Grün­de.

Da ist zum einen die unge­bremst fort­schrei­ten­de Ver­ti­ka­li­sie­rung. Allein im Zeit­raum von 2000 bis 2015 hat sich der Markt­an­teil der rein Ver­ti­ka­len am sta­tio­nä­ren Mode­han­del von einem Fünf­tel auf fast ein Drit­tel aus­ge­wei­tet. Der Markt­an­teil der klei­nen Mul­ti­mar­ken­händ­ler ist im glei­chen Zeit­raum von über einem Vier­tel auf weni­ger als acht Pro­zent zusam­men­ge­schrumpft. Und die gro­ßen Kauf­häu­ser betrei­ben auf ihren Flä­chen nur noch so wenig Mul­ti­mar­ken­han­del wie nötig und ver­mie­ten so viel wie mög­lich an ver­ti­ka­le Shops. Die­se Ent­wick­lung geht sowohl sta­tio­när als auch online bis heu­te unge­bremst wei­ter. Auch Zalan­do macht inzwi­schen bereits 40 Pro­zent sei­nes Umsat­zes nicht mehr als Mul­ti­mar­ken­händ­ler, son­dern als Platt­form für ver­ti­ka­le Online­shops im Online­shop. Ten­denz stei­gend.

Wir haben es mit einem erbarmungslosen Wirtschaftsdarwinismus zu tun, bei dem sich nicht zwangsläufig das beliebtere, sondern das rentablere Geschäftsmodell durchsetzt.

Wenn die Unab­hän­gi­gen von den Ver­ti­ka­len flä­chen­de­ckend aus dem Markt ver­drängt wer­den, dann liegt das schlicht dar­an, dass das ver­ti­ka­le Geschäfts­mo­dell dem unab­hän­gi­gen grund­sätz­lich wirt­schaft­lich über­le­gen ist. Wie damals in den 1970er Jah­ren, als die Tan­te-Emma-Läden von den Super­märk­ten ver­drängt wur­den, haben wir es hier mit einem erbar­mungs­lo­sen Wirt­schafts­dar­wi­nis­mus zu tun, bei dem sich nicht zwangs­läu­fig das belieb­te­re, son­dern das ren­ta­ble­re Geschäfts­mo­dell durch­setzt.

Der Ver­gleich mit den Ent­wick­lun­gen im Lebens­mit­tel­han­del birgt für die noch ver­blie­be­nen Mul­ti­mar­ken-Mode­händ­ler aber kei­nes­wegs nur Aus­weg­lo­sig­keit, son­dern auch einen mög­li­chen Aus­weg: An die Stel­le der typi­schen Tan­te-Emma-Läden, die von allem ein biss­chen anbie­ten, ist eine flo­rie­ren­de Viel­falt an erfolg­rei­chen Spe­zia­li­tä­ten- und Deli­ka­tess­lä­den getre­ten. In mei­ner Umge­bung zum Bei­spiel gibt es einen tür­ki­schen Obst- und Gemü­se­händ­ler, eine But­ter-Lind­ner-Filia­le, ein Geschäft für grie­chi­sche Spe­zia­li­tä­ten, einen ita­lie­ni­schen Fein­kost­händ­ler, ein Geschäft für spa­ni­sche Schin­ken und Käse, eine Wein­hand­lung für Bio-Wei­ne und so wei­ter. So wie bei dem Über­gang von den Tan­te-Emma-Läden zu den eben beschrie­be­nen Spe­zia­li­tä­ten- und Deli­ka­tes­sen­ge­schäf­ten liegt auch für die noch ver­blie­be­nen unab­hän­gi­gen Mode­händ­ler eine Chan­ce in der Spe­zia­li­sie­rung und in der Schär­fung des eige­nen Pro­fils.

Für den sta­tio­nä­ren Han­del ins­ge­samt ist in den letz­ten Jah­ren der Online-Han­del als eine zusätz­li­che Her­aus­for­de­rung dazu gekom­men. Allein in den fünf Jah­ren von 2015 bis 2020 konn­te der Online-Mode­han­del den sta­tio­nä­ren Mode­händ­lern so viel Markt­an­teil abneh­men, dass deren Umsatz um gan­ze 13 Pro­zent ein­ge­bro­chen ist. Und die Pro­gno­sen gehen dahin, dass sie bis über­nächs­tes Jahr noch ein­mal zwölf Pro­zent ihres Umsat­zes ver­lo­ren haben wer­den.

Auch die­se mas­si­ve struk­tu­rel­le Ver­än­de­rung ist grund­sätz­lich bekannt. Ent­schei­dend für das Ver­ständ­nis der der­zei­ti­gen Kri­se sind jedoch die dif­fe­ren­zier­ten Zah­len, die zei­gen, dass die­se Ent­wick­lung nicht alle Seg­men­te des Mark­tes gleich­mä­ßig trifft. Der­zeit hat sie näm­lich ganz beson­ders plötz­lich und ganz beson­ders hef­tig all die­je­ni­gen Unter­neh­men getrof­fen, deren Kern­ziel­grup­pe bereits etwas rei­fe­ren Alters ist. Und das sind in Deutsch­land beson­ders vie­le.

Online gilt: Je oller, je doller. Nicht die Digital-Natives dominieren den E‑Commerce, sondern die Boomer.

Die abso­lu­te Mehr­heit der Deut­schen (57%) ist über 40. Ent­spre­chend ist auch die abso­lu­te Mehr­heit des modi­schen Ange­bots in Deutsch­land auf die­se zah­len­star­ke und zah­lungs­kräf­ti­ge Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus­ge­rich­tet. Das gilt nicht nur für das Pro­dukt selbst, son­dern auch für den Ver­triebs­ka­nal, den sta­tio­nä­ren Han­del.

Die beson­ders stark aus­ge­präg­te Gene­ra­ti­on der Baby­boo­mer hat­te bis zur Pan­de­mie mit dem Klei­dungs­kauf im Inter­net gefrem­delt und sich lie­ber wei­ter­hin in phy­si­schen Geschäf­ten ein­ge­klei­det. Mit den Lock­downs kauf­ten vie­le aus die­ser Gene­ra­ti­on zum ers­ten Mal Klei­dung im Netz und lern­ten, wie ein­fach und bequem das ist. Hat­ten sich die Online-Ein­käu­fe 2019, kurz vor Aus­bruch der Pan­de­mie, noch rela­tiv gleich­mä­ßig auf die ver­schie­de­nen Alters­grup­pen ver­teilt, so zeigt sich seit 2020 ein kom­plett ande­res Bild, das allen gän­gi­gen Erwar­tun­gen wider­spricht. Online gilt: Je oller, je dol­ler. Nicht die Digi­tal-Nati­ves domi­nie­ren den E‑Commerce, son­dern die Boo­mer. Über die Hälf­te (56%) aller Online-Käu­fe wer­den jetzt von Leu­ten gemacht, die über Fünf­zig sind.  Die­se erd­rutsch­haf­te Ent­wick­lung fand in nur einem Jahr statt. Vie­le Anbie­ter haben es nicht geschafft, ihrer Ziel­grup­pe so schnell ins Inter­net zu fol­gen. Das muss nun schleu­nigst nach­ge­holt wer­den.

Ob die Anpas­sung an den Struk­tur­wan­del gelingt, wird sich zei­gen. Ich wün­sche es allen von Her­zen. Die Vor­aus­set­zung ist, dass man die Rea­li­tät aner­kennt. Und sich nicht jedes Mal, wenn die Umsät­ze mal wie­der rück­läu­fig sind, aufs Neue gegen­sei­tig ein­re­det, dass das am Sor­ti­ment oder am Krieg oder am Wet­ter läge.

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Carl Til­les­sens Buch “Kon­sum” hat es in die Spie­gel-Best­sel­ler-Lis­te gebracht

Carl Til­les­sen ist gemein­sam mit Gerd Mül­­­­ler-Thom­kins Geschäfts­füh­rer des Deut­schen Mode-Ins­­­ti­­­­tuts. Sein Buch “Kon­sum” geht der Fra­ge nach, wie, wo und vor allem war­um wir kau­fen. www.carltillessen.com

Bei­trä­ge von Carl Til­les­sen