„Wir werden uns wieder umarmen“, versichert Zalando. Ja, eines schönen Tages werden wir geimpft oder herdenimmun sein. Und in vielen Bereichen werden wir dann zu unserem geliebten Old Normal zurückkehren. Die Restaurants und Clubs, die Theater und Fußballstadien, die Strände und Skihütten werden sich wieder mit Menschen füllen.
Die Büros hingegen werden sich nicht wieder mit Menschen füllen. Denn die Arbeitgeber, die immer dachten, dass Homeoffice bedeutet, dass sündhaft teure Büros leer stehen, haben im Laufe des letzten Jahres verstanden, dass Homeoffice bedeutet, dass sie sich sündhaft teure Büros sparen können. Und das tröstet sie mühelos über den mit der Heimarbeit verbundenen Kontrollverlust hinweg. So wollen laut Umfragen zwei Drittel aller Arbeitgeber auch jenseits der Pandemie verstärkt auf Remote Work setzen. Aber auch die Hälfte aller Arbeitnehmer, die zunächst zwangsweise ins Homeoffice geschickt wurden, will jetzt freiwillig dort bleiben. Die Menschen haben sich an die Annehmlichkeiten der Arbeit von zuhause gewöhnt.
Dazu gehört, am Schreibtisch die bequemste und pflegeleichteste Kleidung zu tragen. Das bleibt nicht ohne Folgen: Auch wenn die Menschen wieder in die Büros zurückkehren, werden sie nicht zu der Art zurückkehren, wie sie sich in diesen Büros gekleidet haben. Denn die Geschichte lehrt uns, dass die Menschen einen in der Mode erlangten Komfort niemals wieder aufgeben. Genauso wie es vor hundert Jahren vom Reformkleid kein Zurück zum Korsett gab, so gibt es jetzt auch kein Zurück vom Sneaker zum High Heel und vom Sweatshirt zum Blazer. Nicht nur das Homeoffice, sondern auch der Homewear-Look wird uns erhalten bleiben. Aus dem Casual Friday wird für viele ein Casual Thursday und ein Dress-Down-Wednesday, ‑Tuesday und ‑Monday werden.
Nach den Erfahrungen des letzten Jahres gehen dem Krawattenzwang ohnehin die Argumente aus. Denn der tradierte Business-Dresscode wurde ja immer damit gerechtfertigt, dass er eine Respektsbekundung sei. Während des Lockdowns haben wir diese Behauptung mal überprüfen können und festgestellt: Der Respekt geht nicht verloren, nur weil man sich im Video Call nicht im Blazer, sondern im Sweatshirt gegenübersitzt. Der Chef ist immer noch der Chef. Der Kunde ist immer noch der Kunde. Die Revolte bleibt aus. Die Hierarchien brechen nicht zusammen.
Und dann gab es da natürlich auch noch das Argument, dass korrekte Geschäftskleidung die Voraussetzung für geschäftlichen Erfolg sei. „You like money? Wear a suit!“, um es mit RuPaul zu sagen. Doch auch dieses Versprechen hat 2020 den letzten Rest seiner Glaubwürdigkeit eingebüßt. Denn während der Corona-Krise haben wieder die Digitalen das meiste Geld gemacht. Und die tragen bekanntlich keine Anzüge und Krawatten, sondern Hoodies und Polohemden. Und weil die Menschen sich auch äußerlich immer gerne auf die Seite der Gewinner schlagen, imitieren sie eben jetzt nicht mehr den Look der Wall Street, sondern den Look des Silicon Valley.
Was gestern der perfekte Krawattenknoten war, ist eben heute die perfekte Sneaker-Schnürung
So hat sich in der Corona-Krise die Art, wie wir uns im Job kleiden, im Zeitraffertempo modernisiert. Für alle Hersteller und Händler, die auf traditionelle Businesskleidung spezialisiert sind und sich über Jahrzehnte die dafür nötigen Kompetenzen und Strukturen aufgebaut haben, sind diese disruptiven Entwicklungen selbstverständlich extrem schmerzhaft und ungerecht. Darüber hinaus kann man das Verschwinden der klassischen Konfektion mit vollem Recht als Niedergang der europäischen Schneiderkunst und ‑kultur betrauern.
Doch all dies birgt auf der anderen Seite auch wieder eine Chance: Während der Markt für Anzüge und Kostüme schrumpft, öffnet sich ein neuer Markt, den es vorher nicht gab, ein Markt für eine bequeme aber wertige New-Normal-Businesskleidung wie elegante Polos, cleane Hosen, Luxus-Sneaker und Edel-Sweatshirts – also Kleidungsstücke, die wir ursprünglich eher aus unserer Freizeitgarderobe kennen, die aber jetzt kein Sportswear-Finish mehr haben muss und auch deutlich mehr kosten darf als Sportswear. Denn der neue Dresscode ist zwar lässiger, aber keineswegs nachlässiger als der alte.
Und nur weil es bei der neuen Businesskleidung nicht mehr um Anzüge mit handgestochenen Knopflöchern und Maßhemden mit Monogramm geht, heißt das ja nicht, dass es nicht mehr um sozialen Status und kulturelle Distinktion geht. Wenn die Chefin jetzt Sneaker trägt, dann sind das nicht zwangsläufig die gleichen Sneaker wie die Praktikantin. Alte Statussymbole verlieren an Bedeutung und neue entstehen. So war – nach den Zahlen, die uns im DMI vorliegen – die Ausgabebereitschaft für Sneaker bereits 2019 innerhalb nur eines Jahres um ganze 40 Prozent gestiegen.
Wenn eine Tradition zu Ende geht, heißt das noch lange nicht, dass es in der Mode keine Kultur mehr gibt. Es entsteht eine neue Kultur mit neuen Codes, die es zu verstehen und zu umarmen gilt, wenn man nicht auf der Strecke bleiben will. Was gestern der perfekte Krawattenknoten war, ist eben heute die perfekte Sneaker-Schnürung.
Carl Tillessen ist Autor von “Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen”