Balenciaga

Kleider so kurz wie das Leben

Die Mode steht vor der gleichen Herausforderung wie unsere gesamte Gesellschaft, meint Carl Tillessen: Sie muss das vermeintlich Unvereinbare miteinander vereinen und eine Balance finden aus Verantwortung und Hedonismus. Ihr muss ein „verantwortungsvoller Hedonismus“ gelingen.
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Carl Tillesssen

Laut aktuellem Lyst-Index ist Balenciaga die heißeste Modemarke der Welt. Diesen Platz an der Weltspitze hat Demna Gvasalia dem Label erobert, indem er eben keine schöne heile Welt gezeigt hatte. Im Gegenteil.

Sommer 20: Wir sehen, wie rechtsradikale Populisten mit Nazi-Haarschnitten in einen AfD-blau eingefärbten Plenarsaal einziehen. In den Nachrichten wird von verschiedenen extrem beunruhigenden Naturphänomenen berichtet, die alle gleichzeitig über die Erde hereinbrechen.

Winter 20: Die Klimakatastrophe ist da. Der Himmel steht in Flammen. Das Abschmelzen der Polkappen hat den Meersspiegel ansteigen lassen. Laufsteg und Frontrow stehen bereits unter Wasser.

Sommer 21: Ein mysteriöses Virus hat die Menschheit befallen. Die wenigen Überlebenden irren vermummt und verängstigt nachts durch menschenleere Straßen.

Winter 21: Es ist tatsächlich geschehen – die Welt ist untergegangen. Das, was von der Menschheit übriggeblieben ist, lebt in einer ebenso unwirtlichen wie unwirklichen postapokalyptischen „Afterworld“.

Vor der Pandemie kam das sehr gut an. Bernd Ulrich von der ZEIT erklärt, warum: „Man sieht, dass an unserem Leben irgendetwas gestört ist, weil die wichtigsten Genres, die die Leute gerne sehen, Dystopien sind oder Krimis. Krimis sind die Dystopie für den Alltag. Und dann gibt es das in groß, die Dystopien für Gesellschaften, Katastrophenfilme usw. Das heißt: Wir haben ein untergründiges Bewusstsein dafür, dass die Dinge so nicht mehr weitergehen und versuchen das dann da zu verarbeiten.“

Unsere dystopische Weltsicht wurde also genährt von unserem Problembewusstsein. Und dieses Problembewusstsein hatte in den letzten Jahren vor der Pandemie immer weiter zugenommen, bis wir am Ende so woke waren, dass unsere Tagträume nur noch Albträume waren. So war auch die Mode von einer Traumfabrik zu einer Albtraumfabrik geworden.

Doch irgendetwas haben die Pandemie und der damit verbundene Lockdown mit uns gemacht: „Wir haben dunkle Zeiten hinter uns. Aber ich spüre diese Dunkelheit nicht mehr. Ich spüre Hoffnung. Mehr Positivität als Hoffnungslosigkeit“, erklärte Demna Gvasalia nach dem Lockdown und veröffentlichte kurz darauf ein animiertes Kampagnen-Video zu der oben erwähnten „Afterworld“-Kollektion. Der Kurzfilm beginnt zwar noch als dystopischer Albtraum, nimmt dann jedoch eine vollkommen unerwartete Wendung: Es entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Unter rosa blühenden Kirschbäumen kommen die beiden sich näher, und der Film endet mit einem klassischen Hollywood-Kuss. Happy End.

Der Star-Künstler Damien Hirst, der vor der Pandemie vor allem Skulpturen aus tierischen und menschlichen Leichenteilen gemacht hatte, fing nach den ersten Lockdowns ebenfalls plötzlich an, rosa Kirschblüten zu malen. Und tatsächlich erscheinen uns seine strassbesetzten Totenschädel, die vor der Pandemie von der Mode so gerne als Motiv aufgegriffen worden waren, jetzt, nach zwei Jahren Pandemie, vollkommen unpassend.

Parallel zu Demna Gvasalia und Damien Hirst hat sich Billie Eilish entwickelt: Auch sie wurde in der Zeit vor der Pandemie gerade deshalb über alle Länder- und Generationsgrenzen hinweg gefeiert, weil sie eben kein zuckersüßes Popsternchen war. Auf dem Cover ihres Debüt-Albums, auf dem sie Halloween-Kontaktlinsen trug, ging es um das sprichwörtliche Monster unter dem Bett. Die Lieder auf dem Album tragen Titel wie „Bury A Friend“ oder „All The Good Girls Go To Hell“, und die Videos dazu sind eine Aneinanderreihung von dystopischen Albtraum-Vorstellungen und Horror-Effekten.

Ihr nach den pandemiebedingten Lockdowns erschienenes Album hingegen heißt „Happier Than Ever“ und enthält Titel wie „My Future“, in dem sie singt „I’m in love with my future. Can’t wait to meet her“. Das Video dazu ist ein durch und durch positiver und optimistischer Zeichentrickfilm – mit einem Happy End zwischen rosa blühenden Bäumen.

Es freut uns natürlich, dass es Demna, Damien und Billie offenbar jetzt so viel besser geht. Aber was, so fragt man sich angesichts von so viel Unbeschwertheit, ist aus dem Problembewusstsein geworden, das ihre Mode, Kunst und Musik vor der Pandemie so düster eingefärbt hatte?

Denn als typische Vertreterin der Generation Woke war Billie Eilish selbstverständlich nicht nur ein musikalisches Phänomen. Sie war auch feministische Ikone und Rollenvorbild für unzählige junge Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt. Ihr Look und ihr Auftreten wurden nicht nur als Statements gegen Sexismus und Objektifizierung von Frauen gedeutet, sie waren es. Noch kurz vor der Pandemie hatte Eilish verkündet: „Deshalb trage ich weite, schlabbrige Kleidung. Niemand kann eine Meinung haben, weil sie nicht gesehen haben, was darunter ist. Niemand kann sagen ‘Die ist gut gebaut’, ‘Die ist nicht gut gebaut‘, ‚Sie hat einen flachen Hintern‘, ‚Sie hat einen fetten Hintern‘.“

Doch auch in dieser Hinsicht kam während des Lockdowns die unerwartete 180-Grad-Wende: Im Mai 2021 präsentiert sich Billie Eilish in der Coverstory der britischen Vogue plötzlich als blondierter Kurvenstar in erotischen Dessous und klassischen Pin-Up-Posen. Offenbar ist, nach der erzwungenen Isolierung und körperlichen Distanz während der Corona Krise, das Bedürfnis, sich und seinen Körper zu zeigen, stärker als das feministische Problembewusstsein.

Die Menschen haben gelernt, dass sie ihr Leben genießen müssen, auch wenn die globalen Probleme noch nicht gelöst sind.

Selbstverständlich ist Eilish bewusst, dass sie als globales Vorbild eine Verantwortung trägt. Doch sie hat gerade keine Lust auf diese Verantwortung. Insofern ist der Titel einer ihrer neuen Songs Programm: „Not My Responsibility“. „Mein Ding ist, dass ich machen kann, was ich will. Es geht vor allem darum, womit man sich wohl fühlt“, verteidigt sie die Vogue-Fotos. Am Ende ist eben auch Billie Eilish nur ein junges Mädchen, dem die Pandemie eine besonders kostbare Zeit seines Lebens geraubt hat und das jetzt das Leben und ihren Körper genießen will und keine Lust mehr hat, immer Vorbild sein zu müssen. „Das ist doch krank. Junge Frauen wie wir“, erklärt sie und meint damit Greta Thunberg und sich, „man verlangt von uns, dass wir alles machen und wissen und jedermanns Mutter sind, wenn wir gerade mal 15 sind.“

Auch Greta Thunberg konnte – nachdem sie, wie wir alle, während des Lockdowns weggeschlossen gewesen war – der Versuchung nicht widerstehen, sich von der Vogue für eine Coverstory fotografieren zu lassen. Nachdem sie die Ansicht vertreten hatte, „Die Modeindustrie hat einen riesigen Anteil am Klima- und Umweltnotstand. […] So wie die Welt heute gestaltet ist, ist nachhaltige Massenproduktion und nachhaltiger Massenkonsum von Mode gar nicht möglich“, ließ sie sich für die Augustausgabe von Vogue Scandinavia in der neuesten Mode fotografieren.

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Greta Thunberg auf dem Titel der Vogue Scandinavia: Wir tun dies, weil wir hoffnungsvoll sind.

Auch Greta Thunberg hat im Lockdown eine vollständige Kehrtwende gemacht. Vor der Pandemie hatte sie noch erklärt: „Ich will Eure Hoffnung nicht. Ich will nicht, dass Ihr hoffnungsvoll seid.” Doch während des Lockdowns ist – wie bei Demna Gvasalia – die Hoffnung und die Positivität in ihr Leben zurückgekehrt: „Was wir in unseren Vorträgen und auf unseren Reisen so oft hören, ist, dass sich die Menschen sehr hoffnungslos fühlen. […] Dieses Gefühl, keine Hoffnung zu haben, ist das Gegenteil von Aktivismus. […] Es gibt eine falsche Vorstellung von Aktivist:innen, insbesondere von Klimaaktivist:innen, dass wir nur negativ und pessimistisch sind und uns nur beschweren und versuchen, Angst zu verbreiten, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir tun dies, weil wir hoffnungsvoll sind. Offenbar kann auch Greta Thunberg ihr Leben nicht mehr in permanenter Angst verbringen. Auch sie ist eben nicht nur Aktivistin, sondern auch ein Mädchen, das gerade 18 geworden ist und sich und ihr Leben genießen will.

Auf einer Fridays4Future-Kundgebung im Oktober 2021 gönnte sie sich den Spaß, gemeinsam mit einem anderen Aktivisten auf der Bühne den 80er-Jahre-Hit „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley vorzusingen, inklusive der ikonischen Dance-Moves. Auf die Frage, was das sollte, erklärte sie: „Wir sind letztlich einfach Teenager, die miteinander herumalbern, nicht nur die wütenden Kinder, als die uns die Medien oft darstellen.“

Ja, diese Teenager albern miteinander herum, weil sie es – wie wir alle – anderthalb Jahr lang nicht durften. Sie empfinden das, was wir alle empfinden, nur viel intensiver, weil für sie anderthalb Jahre viel länger und viel einschneidender sind als für Erwachsene. Wir sind uns bewusster geworden, dass das Leben kurz ist“, erklärt Thunberg und spricht damit wohl für uns alle.

Auch wenn auf uns nicht so viel Verantwortung lastet wie auf Billie Eilish und Greta Thunberg und man von uns nicht verlangt, dass wir „jedermanns Mutter sind“, so haben doch auch wir den Anspruch, unseren kleinen Beitrag zur Lösung der dringenden globalen Probleme zu erbringen. Und auch wir haben gleichzeitig das dringende Bedürfnis, jetzt endlich wieder Spaß zu haben. Auch uns ist 2020 klar geworden, dass das Leben kurz ist und dass wir den Augenblick genießen müssen. Wir können nicht erst dann wieder glücklich sein, wenn auch die letzte Mutation des Virus besiegt ist. Es ist nicht so, dass man nicht herumalbern darf, solange die Erderwärmung nicht gestoppt ist. Man kann nicht erst dann wieder Spaß an seinem Körper haben und sexy Kleidung tragen, wenn es auf der ganzen Welt keinen Sexismus mehr gibt. Die Menschen haben gelernt, dass sie ihr Leben genießen müssen, auch wenn die globalen Probleme noch nicht gelöst sind.

„In diesem Jahr haben wir gesehen, wie sich die Prioritäten der Menschen sehr schnell geändert haben. Die Verbraucher:innen […] erkennen, dass das Leben kostbar ist, während sie die Dinge früher vielleicht als selbstverständlich hingenommen haben. Sie nutzen den Augenblick“, bestätigt die Professorin für Modepsychologie Carolyn Mair. Die Mode steht damit vor der gleichen Herausforderung wie unsere gesamte Gesellschaft: Sie muss das vermeintlich Unvereinbare miteinander vereinen und eine Balance finden aus Verantwortung und Hedonismus. Ihr muss ein „verantwortungsvoller Hedonismus“ gelingen. Wie dieser modische Spagat gelingen kann, erklären meine Kolleg:innen und ich beim aktuellen DMI Fashion Day Online.