Auch in den Jahren vor dem Lockdown, als Läden noch öffnen durften, hatten die stationären Modehändler bereits die zunehmende Konkurrenz aus dem Netz als eine existenzielle Bedrohung erkannt. Für die traditionellen Modehändler war der E‑Commerce ein Herausforderer, der sie zu Höchstleistungen antrieb. In einem unfairen Konkurrenzkampf, in dem der Onlinehandel ihnen in Bezug auf alle harten Faktoren überlegen war, setzten die Stationären auf die weichen Faktoren: menschlichen Kontakt, Inspiration und Emotionalisierung. Sie verausgabten sich mit kostspieligen Inszenierungen und kräftezehrendem Service, bauten um, machten Events, organisierten Live-Musik, boten Workshops an, verschickten handgeschriebene Karten, machten Geburtstagsgeschenke, kochten Kaffee, schenkten Sekt aus – alles, um ihre Kund*innen für die angebotene Ware zu begeistern.
Und das gelang ihnen auch. Aber eben oft nur noch das. Denn sie wurden zunehmend von ihren Kund*innen als kostenloser Showroom missbraucht, in dem man ganz unverbindlich Waren angucken, anfassen, an- und ausprobieren, Kaffee und Sekt trinken und sich eingehend beraten lassen konnte – um dann im Netz zu bestellen.
Insofern waren die unabhängigen stationären Händler für den E‑Commerce nützliche Idioten. Denn dank der Vorarbeit der Brick-And-Mortar-Stores konnten die Onlinehändler sich in ihren Webshops die stimmungsvolle Inszenierung und die Beratung sparen. Nachdem die Läden die Menschen zum Kauf von Dingen verführt hatten, brauchten die Webshops diese Käufe dann ja nur noch abzuwickeln.
Die Pandemie hat dieser parasitären Beziehung zwischen Online- und Offline-Handel nun ein jähes Ende bereitet. Seit März 2020 ist plötzlich Schluss mit Showrooming, weil der stationäre Modehandel seit fast einem Jahr abwechselnd im Lockdown light und im Lockdown heavy ist. Und es zeichnet sich ab, dass viele stationäre Modehändler aufgrund ihrer Vorerkrankungen das Virus nicht überleben werden. Sie werden in Zukunft nicht mehr da sein, um die Kund*innen durch ihre Inszenierungen zu emotionalisieren und im persönlichen Gespräch zum Kauf zu verführen.
Also müssten die Onlineshops das jetzt selbst machen. Eigentlich. Die meisten Etailer jedoch betrachteten sich selbst auch weiterhin lieber als nüchterne Logistikunternehmen oder als „Technologieanbieter, die das Internet für ihre Kunden nutzbar machen wollen“, um es mit Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber zu sagen. Und so sehen die meisten Mode-Onlineshops denn auch aus: Mit der Emotionalität eines Schraubenregals im Baumarkt wird uns die Kleidung dort einfach in einer tabellarischen Übersicht präsentiert. Egal ob Gummistiefel oder Spitzendessous – alles wird in derselben Operationssaal-Beleuchtung vor demselben weißen Hintergrund abgelichtet. Sogar die Gesichter der Models, die für uns Menschen eigentlich einen besonderen Wert haben, weil sie unmittelbar das Belohnungszentrum in unseren Gehirnen ansprechen, werden meist einfach abgeschnitten. Wohin man auch klickt – von menschlicher Gegenwart keine Spur.
Nachdem dem Onlinehandel letztes Jahr durch die fehlende stationäre Alternative 15 Prozent mehr Umsatz beschert wurden, hat er natürlich derzeit wenig Antrieb, seine Strategien zu hinterfragen. Für 3600 Prozent mehr Umsatz könnte es sich aber lohnen, es trotzdem zu tun.
Jeder Einzelhändler hingegen weiß ganz selbstverständlich, dass man einem Menschen nur dann etwas verkaufen kann, was er nicht sowieso gekauft hätte, wenn es gelingt, mit ihm einen menschlichen Kontakt aufzubauen. So waren im Lockdown die kleinen Modeboutiquen auch die ersten, die ihre Kund*innen persönlich anriefen, die ihnen WhatsApp-Fotos von neuer Ware aufs Handy schickten und mit ihnen bei laufender Facetime-Kamera durch den Laden liefen. Auf diese Weise gelang es vielen, trotz geschlossener Türen wenigstens ein paar Teile zu verkaufen und den Schaden zumindest ein bisschen zu begrenzen. Das funktionierte auch anderswo: OBI beispielsweise hat im Lockdown einen Online-Service eingerichtet, bei dem man sich kostenlos bei Spezialisten Rat zu Heimwerker-Projekten einholen kann. Das heißt: Dort ist man selbst für Kunden zu sprechen, die noch gar nicht wissen, ob sie etwas kaufen wollen.
Die meisten Mode-Onlineshops hingegen sind nicht einmal für diejenigen zu sprechen, die fest entschlossen sind, etwas zu kaufen, und nur noch eine kleine Frage haben. Sie sind nach wie vor reine Selbstbedienungsläden und setzen alles daran, bloß nicht persönlich reden zu müssen. Selbst wenn man als Kund*in bis ganz nach unten scrollt und irgendwo am alleruntersten Rand das winzig klein geschriebene Wort „contact“ findet, ist man von tatsächlichem Kontakt noch unendlich weit entfernt. Bevor man irgendetwas schreiben darf, muss man nämlich die eigene Intelligenz erst einmal von mehreren Seiten unfassbar dummer FAQs beleidigen lassen. Danach wird man gezwungen, dem Händler durch das Ausfüllen eines umfangreichen „Kontaktformulars“ seine gesamten persönlichen Daten preiszugeben. Und zum Schluss muss man sich noch verschiedenen Tests unterwerfen, um dem Roboter, mit dem man da gerade kommuniziert, zu beweisen, dass man selbst – im Gegensatz zu ihm – kein Roboter ist.
Seit Jahren arbeiten die großen Etailer kontinuierlich an der Optimierung der Firewall, mit der sie jeden Versuch der Kontaktaufnahme durch ihre Kunden abblocken. Dabei zeigt eine Studie, die uns beim DMI vorliegt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kund*innen in einem Onlineshop, den sie besuchen, tatsächlich auch etwas kaufen, bis zu 3600 Prozent höher ist, wenn sie dort per Chat von einem Mitarbeiter angesprochen werden. Nachdem dem Onlinehandel letztes Jahr durch die fehlende stationäre Alternative 15 Prozent mehr Umsatz beschert wurden, hat er natürlich derzeit wenig Antrieb, seine Strategien zu hinterfragen. Für 3600 Prozent mehr Umsatz könnte es sich aber lohnen, es trotzdem zu tun.