Wären wir hier auf LinkedIn, würde ich wohl so beginnen. Müssen: „Ich bin zunächst einmal super #proud, auf total bescheidene Weise, natürlich, dass Sie sich diese kleine Kolumne auf Ihre Leseliste gesetzt haben. Und irre #thankful: meinem Deutschlehrer in der 7. Klasse, meinem Mann #husbandgoals, und der, äh, Academy, die an diesen Zeilen indirekt ihren Anteil hatten #blessed. Und, ganz ehrlich, auch ich kämpfe gelegentlich mit depressiven Schüben #mentalhealth, halte mühevoll meinen ADHS-Wirrkopf im Zaum #neurodiversity und suche wie wir alle nach dem tieferen Sinn des (Arbeits-)Lebens #purpose.“ Alles wahr übrigens, und Teil der täglichen Posts-Dauerschleife. Gleichauf mit Neukunden- oder Jobwechsel-Meldungen, Employer Branding und bizarren politischen Debatten. Ein Business-Netzwerk als 24/7‑Beichtstuhl.
Es menschelt bis zur völligen emotionalen Erschöpfung der Rezipienten, die vielleicht gar nicht von jeder auf der Plattform präsenten Fachkraft wissen wollten, wie sie die Pflege der greisen Eltern organisiert hat #generationslove und was schlussendlich gegen die fiese Schuppenflechte half #healthgoals. Je schonungsloser die Innenansichten, desto weiter rückt der LinkedIn-Voice-Status in greifbare Nähe. So scheint es. Zwischendrin noch rasch einige Posts zu New Work, Kryptowährungen, Inequality und Quiet Quitting, damit man nicht zu verhaltensauffällig daherkommt. Kommunikation als Baukasten nach dem Schema „auf Nähe folgt Ferne“, auf #likeaboss eine Dosis performative Verletzlichkeit. Hier der Seelenstriptease, da die penetrante Kalt-Akquise. #wtf
Dieses, teils erstaunlich intime Zuviel an Information bringt das Publikum nun in arge Gewissensnöte: Wie reagiere ich richtig auf das seelische Nackigmachen von Kollegen, Geschäftspartnern, Lieblingsmarken? Mit reflexartigem Jubel samt honigsüßer Lobhudelei im Kommentarfeld? Mit einer psychotischen Tirade, die sich wie die Bewerbung um einen Therapieplatz liest? Mit stillem Entfolgen samt melancholischem Kopfschütteln? Ich weiß es nicht mehr, und fühle mich ein klein wenig mitverantwortlich für diese verunsichernde Entwicklung einst rein beruflicher Wortmeldungen. Und vielleicht auch für die längst floskelhaft vorangestellten Einleitungsformeln wie „Ich bin mächtig stolz …“ und „Das hat mich betroffen/bescheiden/ohnmächtig/dankbar gemacht…“
Hat uns die Rundum-Transparenz einander näher, Leben und Arbeit wirklich in eine gesunde Balance gebracht? Oder haben wir dem Repertoire unserer Eigenvermarktung bloß neue Tools von A wie Achtsamkeit bis V wie Verwundbarkeit hinzugefügt?
Dabei habe ich lange Zeit genau das beklagt. Dass sich Interviewpartner hinter Titeln und dem Marken-„Wir“ verkrümeln, zu Corporate-Zombies werden wie in der HBO-Serie Severance. Dass sie jegliche Ecken, Kanten, ja ihre Persönlichkeit zum Amtsantritt im HR Department ablegen. Und dass, was in einem Gespräch an Rest-Charme übrig bleibt, im Prozess der Autorisierung vor Veröffentlichung meist dem Rotstift zum Opfer fällt. Aus Angst, dass vermeintliche Schwächen das Image vom unkaputtbaren Alphatier zerstören könnten und die eigene Authentizität sekundenschnell in einem sozial-medialen Fegefeuer gipfelt. Euphorisch applaudierte ich jedem CEO und Top-Kreativen, der sich der Regel „Boys don’t cry“ verweigerte und sich unter die Haube blicken ließ. Ich favorisierte Marken mit unbequemer Message, Brands, die mehr über das Gemeinwohl sprachen als über ihr eigentliches Produkt. Und fühle mich jetzt geradezu verfolgt von den guten Geistern, die ich (mit vielen anderen) rief. Überspitzt ausgedrückt: Manager, die gleich zu Beginn eines Montag-Beitrags auf Xing ihr Kindheitstrauma auspacken, samt Tränen-Emoji – das habe ich so nicht gewollt!
Was jetzt? Rasch wieder zuklappen die Auster des Innenlebens und stattdessen den Wall Street-Macker rausholen, den Terminator und das ganze Bullshit-Bingo toxischer Maskulinität? Nein, das wäre ein definitiver Griff ins Office-Klo. Nur bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob uns die viel gepredigte Rundum-Transparenz einander näher, Leben und Arbeit wirklich in eine gesunde Balance gebracht hat. Oder ob wir dem kommunikativen Repertoire unserer Eigenvermarktung bloß neue Tools von A wie Achtsamkeit bis V wie Verwundbarkeit hinzugefügt haben. Ob wir nicht private Herausforderungen und psychisches Leid bloß – vermutlich unbewusst – ebenso strategisch einsetzen wie das Foto vom Teamausflug in den Hochseilgarten oder die Tasse Matchatee neben der gerollten Yogamatte.
Selbst das progressivste Unternehmen ist kein verlässlicher Ersatz für den guten Draht zum Partner, zur Mutti, dem Schulkumpel von einst oder dem Nachbarn.
In einer Folge des herrlich grüblerischen Podcasts The Ezra Klein Show der New York Times hörte ich vor wenigen Tagen Ausführungen der Autorin Anne Helen Petersen, die mich dem Warum dieses Phänomens ein Stück näher brachten. Die Autorin des neuen Buches „Out of Office“ sagte, in meinen Worten, dies: Die Pandemie hat vielen Menschen, die sich ins Homeoffice flüchten konnten, ganz drastisch und zum ersten Mal gezeigt, dass sie außerhalb ihres Büros und den After-Work-Drinks mit der Abteilung quasi gar kein soziales Leben mehr unterhielten. Ihre Arbeit hatte sich längst sämtlicher menschlicher Bedürfnisse bemächtigt und diese mehr oder weniger auch erfüllt. Die Schattenseite: Sie besaßen keine Freunde mehr, die nicht auch Kollegen oder Geschäftspartner waren, konnten sich an keine Party mehr erinnern, die nicht auch ein Firmenevent war und fassten selten noch Gedanken jenseits geplanter Projekte, wichtiger Pitches, Meetings und Messen. Die Folgen, wo nun all das durch Covid-19 über Nacht ausfiel, waren (und sind!) deutlich dramatischer, als man es bisher lesen und hören konnte.
Und nur logisch, dachte ich am Schluss ihrer Erläuterungen, dass man ohne Zögern auf LinkedIn mittlerweile die metaphorische Hose runterlässt, wenn die Arbeit den größten Teil des Daseins ausfüllt und der Kontakt zur Work-Familie besser und intensiver ist als zum eigenen Stammbaum. Allerdings mit mindestens einem fatalen Unterschied, den ich oft genug beobachten konnte, nämlich, dass sich nach dem Verlassen einer mächtigen Company oder Hierarchie-Ebene meist niemand dieser Job-Freunde mehr groß um die eigenen Sorgen, Probleme oder bloß Ideen kümmert. Die Erfolgskarawane zieht weiter. Dagegen dürfte man selbst in der dysfunktionalsten Familie in einer Notlage wenigstens ein paar Nächte auf der Couch ergattern und ein offenes Ohr finden können.
Selbst das progressivste Unternehmen ist kein verlässlicher Ersatz für den guten Draht zum Partner, zu Mutti, dem Schulkumpel von einst oder dem Nachbarn. Und vielleicht, nur vielleicht, sind viele Offenbarungen auf LinkedIn oder TikTok auch in deren Kreis deutlich besser aufgehoben. Oder?
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
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