Neulich in irgendeinem Video-Meeting:
„Wir sehen uns längst nicht mehr als reine Marke. Wir wollen der Hub einer wachsenden Community sein, die unsere Values und Message teilt.“
Okay, aber ihr stellt Socken her …
„Uns geht es um die Themen, die unsere Kunden bewegen, von Alltagssorgen bis zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Darüber wollen wir uns rund um die Uhr mit ihnen austauschen.“
Was beschäftigt denn Sockenträger*innen, also außer ein Loch an der Ferse oder schlappe Bündchengummis?
„Wir treten für ein neues Lebensgefühl ein, bei dem der Komfort im Mittelpunkt steht. Sei es dir wert, dass Socken sich angenehm anfühlen, nicht den Blutfluss ins Bein abschnüren oder deine Zehen einengen.“
Klar, solche kauft man halt nicht wieder.
„Genau, aber es geht natürlich auch um Achtsamkeit, Empowerment und Selbstliebe.“
Bitte?
„Ich will über eine Socke ja auch ausdrücken, dass ich gut zu mir bin, mich als wertvollen Menschen wahrnehme. Dazu haben wir gerade mit einer Crew von Mikroinfluencern coole Insta-Stories gemacht. Im März droppen wir dann eine Capsule Collection mit einem Start-up für vegane Müsliriegel, deren Verpackungsdesign wir einweben. Das kannst du übrigens alles in unserem Podcast ‚Walking on Sunshine‘ nachhören.“
Vielleicht wenn die Steuer 2021 fertig ist.
„U‑u-und wird sind total stolz auf unser neues testimonial, den E‑Games-Champion IchWohnNochBeiMami.“
Ganz schön langer Künstlername …
„Stimmt. Aber der kommt halt in der TikTok-Szene mega an und passt perfekt zu uns.“
Wie das? Wegen der Werte, eurem gesellschaftlichen Engagement und dem multimedialen Storytelling?
„Nö, aber er trägt halt super gerne Socken, manchmal jeden Tag.“
Wow, ja, klingt wirklich, äh, mega.
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So oder so ähnlich laufen immer häufiger Termine ab, denen man als Medienmacher beiwohnen, nur leider nicht dabei grinsen darf. Moment mal, stopp, möchte man in die Webcam rufen, kurze Hype-Pause. Lasst uns das mal mit mentalem Hygiene-Abstand durchdenken, was da gerade aus eurem Trainee sprudelte. Wie seid ihr darauf gekommen, dass die Welt sich danach verzehrt, dem #tribe einer Sockenmarke beizutreten und auf sämtlichen Kanälen zu leidlich angeflanschten Themen belatschert zu werden? „Unser Ziel ist es, unsere Kunden Tag und Nacht mit Inhalten auf sämtlichen Plattformen durchs Leben zu begleiten.“ What? Das klingt reichlich nach Stalking. Und können wir den Satz „Wir verkaufen kein Produkt, wir promoten einen Lifestyle“ ganz schnell aus dem Werbevokabular streichen? Gleiches gilt für den Begriff Storytelling, der allenfalls auf Bewährung in die kommunikative Freiheit entlassen werden dürfte.
Die Kakofonie, die uns zunehmend umgibt, ist weder zielführend noch auszuhalten. Oft kaschiert die Märchenstunde Kinderkrankheiten im Workflow und Geschäftsmodell sowie unausgereifte Ware.
Schließlich führte sein Aufstieg dazu, dass jedes Schuppenshampoo mittlerweile sein eigenes Magazin hat, jede Pommesbude einen Newsletter, jede Stadtreinigung ein Audioformat. Wer schweigt, verliert, und folglich nimmt das Markengelaber kein Ende. Der urmenschliche Impuls, sich einmal so richtig auszusprechen, zu allem und jedem eine Meinung zu haben, ist ja verständlich. Doch mittlerweile hat dieser manische Mitteilungsdrang ein Niveau erreicht, der für Absender und Empfänger in etwa so gesund ist wie eine Zabaione nach fünf Stunden Mittagshitze.
Ein besonders penetrantes Beispiel ist das Einkaufsradio in unserem Rewe-Markt. Statt klare Hinweise in den Äther zu senden – „In unserer Kühltheke diese Woche im Angebot: die Ristorante von Oetker für 1,49 statt 2,29 Euro“ – ziehen die angeheuerten Texter und Sprecher alle Register. Das Ergebnis ist ein bizarres Geplapper in ohrenbetäubender Lautstärke, dessen Inhalt und Duktus zwischen grenzdebil und pornös schwankt. Eine Kostprobe: [Frauenstimme mit dem Timbre eines 0900-Spots] „Kennst du das auch? Wenn dich abends so richtig der Heißhunger packt auf ein backfrisches Schwarzbrot mit cremiger Butter? Hmmmmm… Ich belege mir das oft mit herzhaftem Harzerkäse und ein paar knackigen Gurkenscheiben. Unwiderstehlich, oder? Dazu vielleicht einen Schluck spritzigen Riesling. In unserer Weinabteilung …“ Hey, geht’s noch, es sind Kinder im Geschäft. Den Ex-Radioleuten sei der Job von Herzen gegönnt. Schämen sollten sich eher ihre Auftraggeber!
Auch großartig und seit zu vielen Jahren feste Storytelling-Pfeiler im PR-Bauernkalender sind die Pseudo-Aufhänger, mit denen Produkte in Magazine gepresst werden sollen. Eine sehr kleine Auswahl von Betreffzeilen, die sich alljährlich oder öfter wiederholen: „Es wird kalt draußen“ (Ach!), „O’zapft is“ (Scho’ wieda?), „Die Farbe des Jahres“ (… kann mich mal.), „Die schönsten Looks aus Serie XYZ“ (Nich’ gesehen.) und „Styles für den Wonnemonat Mai“. Sorry, aber wer sagt denn noch Wonnemonat? Vermutlich Menschen, die adipöse Blagen als Wonneproppen bezeichnen.
Wäre ich mathematisch bewandert, würde mich eine statistische Erhebung reizen, wie viel Prozent der 24/7 umgewälzten Content-Massen wirklich auf offene Augen und Ohren treffen, geschweige denn jemanden zu irgendeiner den Absatz ankurbelnden Handlung bewegen. Ich wüsste gern, in welchen Marken-Communitys tatsächlich die Post abgeht und sich Unternehmensziele erfüllen. Spannend ebenfalls: Wie viele Medienschaffende sich mit Beaujolais aus dem Tetrapak-Zapfhahn ihren Corporate-Communications-Einsatz schöntrinken, bis zum Dämmerschlaf. Ausg’soffn is’. Ich wette, dass locker 80 Prozent dessen, was Marken für ihre imaginierte hardcore fan crowd produzieren lassen, direkt im Google Archiv verschwindet. Dort sammelt sich digitaler Staub aus Nullen und Einsen auf den peinlichen Worthülsen und Themen-Trittbrettfahrten, bis in ferner Zukunft ein Brand-Verantwortlicher sie vom Web-Dachboden holt. Belustigt darüber, welch absurde „If we make it, they will watch“-Strategie sein Vor-Vor-Vorgänger einst fuhren. Und wie viele Ressourcen die nervtötende Anhänglichkeit verschlang, die beim eigentlichen Produkt fehlten.
Ich will nicht von jedem Produkt, jeder Dienstleistung vollgetextet werden, nicht Teil von zig Communitys sein und nicht von jeder Marke die Welt erklärt bekommen.
Dazu ein Beispiel aus persönlicher Konsumhistorie: Ich wollte das 2022 eigentlich mit neuer Bettwäsche beginnen. Total nachhaltig, bestellt bei einem Start-up, das mich über Instagram-Werbung geködert hatte. Klar, kam gleich nach der Order der erste Newsletter, zwischendrin zudem Mails direkt vom Schreibtisch des jungen CEOs. Das ganze Gedeck. Nur die Bettbezüge kamen nicht. Und zwar zwei Monate lang nicht. Dafür funky Infografiken zum besseren Schlaf, Wellness-Tipps von irgendwelchen Influencern sowie News zu neuen Farben und Designs. Mal auch beschwichtigende Gründer-Worte, dass Geduld eine Tugend sei. Nach etlichen Nachfragen mit steigendem Aggressionspegel gab die Community-Managerin dann kleinlaut zu, sie könne auch nicht sagen, ob und wann die Lieferung aus der Produktionsstätte wohl ankäme. „Möchtest du einen Gutschein?“ Warum man mit deutlich über 40 heute fast überall geduzt wird, dazu sage ich aus Platzgründen hier mal nichts.
Anderes Beispiel. Eine Fahrradklingel mit allerlei Hightech-Firlefanz aus der Kategorie „Internet der Dinge“. Empfohlen von irgendeinem Insta-Clown und auf einer Crowdfunding-Seite beworben, nach Storytelling-Lehrbuch. Mit persönlichen „Darum machen wir das“-Essays, mit peppigen Videos, mit Zitaten aus dem #tribe. Das war vor drei Jahren. Klingeln muss ich beim Radeln noch immer mit angerosteter Glocke ohne Bluetooth-Funktion. Das Geld? Futsch.
Nein, die Kakofonie, die uns zunehmend umgibt, ist wirklich weder zielführend noch auszuhalten. Oft kaschiert die Märchenstunde zudem eine ausgeprägte failure to launch, also Kinderkrankheiten im Workflow und Geschäftsmodell sowie unausgereifte Ware. Wie bei einem Magier, der viel erzählt, damit keiner seine Finger beobachtet.
Ich will nicht von jedem Produkt, jeder Dienstleistung vollgetextet werden, nicht Teil von zig Communitys sein und nicht von jeder Marke die Welt erklärt bekommen. Ich habe mich auch weder je gefragt, welche Partei wohl Knoppers wählen würde, noch Bedarf für Ratschläge zu gesunder Ernährung im Markenblog von hochkalorischen Snacks.
Also, liebe Markenlenker, hört auf, pausenlos in eurem Namen labern zu lassen. The world is laut genug. Kümmert euch um euer Produkt, eure Mitarbeiter, die Natur und eure Familien. Wenn euch die Langeweile packt, lernt Finnisch, geht mit Alpakas wandern oder lauscht beim Kiffen Willy Nelson. Ach ja, und falls ihr grüne Leinenbezüge im Format 220×155 oder eine Lenkerklingel mit integrierter Lampe findet, meldet euch gern bei mir.
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.