Einfach mal größer denken, hatte uns der Mann von der Hamburger Sparkasse damals in Gemeinschaftskunde ermuntert, als wir mit Spielgeld auf den Aktienmarkt losgelassen wurden. Meinem Lehrer muss rasch klar gewesen sein, dass ich zwar gut kopfrechnen und einkaufen konnte, von Vermögensplanung aber ungefähr so viel verstand wie der Pauker von einem stilvollen Outfit. In mein Portfolio wanderte alles, was ich aus Werbung und Shopping Malls kannte: Jil Sander, Wella, McDonald’s und Adidas. Die Performance meines Investments? So verheerend wie ein Blankoscheck an Bernie Madoff.
Gut, gemessen an Phänomenen wie Kryptowährungen, Wirecard und Gamestop klingt das wie eine Anekdote aus einem Land vor unserer Zeit. Und doch musste ich genau an diese Unterrichtseinheit denken, als ich von Birkenstock las. Jetzt düsen also die Hipster-Sandalen (und Matratzen und Kosmetikprodukte) aus Linz am Rhein bald als Satelliten durch das Luxusuniversum von Bernard Arnault. Nehmt das, ihr Öko- und Jesuslatschen-Spötter! Sicherlich, noch sind die kultigen Birkenstocks Lichtjahre von leuchtenden Planeten wie Louis Vuitton, Moët & Chandon oder Dior entfernt. Lediglich eingetragen in die Sternenkarte, über die der eng mit dem LVMH-Boss verbundene US-Finanzinvestor L Catterton wacht. Bei dem Namen muss ich übrigens jedes Mal an einen Zeichentrick-Detektiv mit karierter Schirmmütze denken. Egal.
Für mich ist diese Meldung zweierlei: Erstens ein riesiges ‚Daumen hoch‘ für das visionäre Management dieser über 200 Jahre alten Marke. Bei Birkenstock hat man längst über die engen Grenzen des Kork-Fußbetts hinausgedacht und seine ikonische Marke clever für Impact-starke Designerprojekte und inhaltlich verwandte Wellness-Produkte genutzt. So professionell und vorausschauend, dass das Unternehmen kolportierte 4 Milliarden Euro wert sein soll. Wow.
Zweitens kam mir sofort jenes sorglose Börsenspiel aus Teenietagen wieder in den Sinn, als wir ohne Schere im Kopf unser Depot mit Lieblingsmarken füllten. Auf 2021 übertragen frage ich mich nun: Warum kam in den letzten Jahrzehnten in Deutschland niemand auf die Idee, es den LVMHs, den Richemonts, den Kerings und anderen Kuratoren glanzvoller Maisons nachzumachen? Von der JAB Holding abgesehen, die hat es mit Labelux immerhin, wenn auch erfolglos versucht und ist heute mit Coty (passt), Panera Bread (äh) und Bergen von Kaffee eher breit aufgestellt. Wo ist der ernsthafte Ansatz, Marken unterschiedlicher Disziplinen unter einem Dach zu vereinen, das auf den Säulen eines gemeinsamen Werteverständnisses und handwerklicher Exzellenz steht? Stattdessen sehen wir dabei zu, wie auch der letzte Diamant aus Deutschland von solventen Bewunderern aus Frankreich, der Schweiz, Italien oder China in einer Holding gefasst wurde.
Ist es nicht langsam an der Zeit, dass wir in hiesigen Markenlegenden endlich ebenso viel Potenzial sehen wie die Global Player, die sie liebend gern in ihre jeweiligen Luxusfamilien aufnehmen?
Ich bin natürlich weder ein Business-Guru noch ein Analyst. Wenn ich mich mit Geld auskennen würde, wäre ich wohl kaum Journalist geworden. Als solcher erlaube ich mir das Gedankenspiel, mal kurz einen deutschen Luxuskonzern zu schmieden. Aufgeteilt in ähnliche Kategorien wie LVMH und bestückt mit meisterhaften Vertretern von hier, salopp gesagt.
Wie nennen wir das Ganze? Rasch ein paar Begriffe in einen Online-Generator getippt: „luxury Germany quality cool“. Muss reichen. Nach diversen Stilblüten spuckt das Orakel die Lettern „GOODSD“ aus, mit einem angehängten D für – genau – Deutschland. Ja, das klingt jetzt etwas nüchtern, doch wie leidenschaftlich reißt uns bitte der Neologismus Kering mit? Und Arcandor war zwar definitiv märchenhaft, die Bilanzen nur leider auch. Langweilig ist manchmal die solidere Wahl. Notfalls muss ein Claim wie „German Wertigkeit“ oder so den Charme unseres neuen Global Players aufpeppen. Rasch noch ein Logo gebastelt, den abstrakten Edelstein obendrauf konnte ich mir nicht verkneifen, und die URL-Lage gecheckt. Ja, wird wohl 1000 Euro kosten, sich goodsd.com anzueignen.
Dann beginnt der spannendste Teil, nämlich das hemmungslose Einsortieren toller Brands in unseren Konzern-Baukasten. Manche Marke steht wohl leider nicht mehr zur Verfügung, darunter Jil Sander, Rimowa, Puma oder A.Lange & Söhne. Aber vielleicht könnten ja Dorothee Schumacher, Aigner, Roeckl, Allude und Eduard Dressler oder Baldessarini die Modesparte bereichern. Und Nomos, Sinn und Wellendorff Uhren & Schmuck. Und Babor und Mäurer & Wirtz das Duft-Segment. Und was ist mit Käfer, Markus Molitor, The Duke Gin und Slyrs Whisky für die Genuss-Unit? Oder Meissen, Schramm, Burmester, Leica, Schramm und Graf von Faber-Castell?
Keine Ahnung, aber man darf solche Hirngespinste mal durchspielen, finde ich. Denn ist es nicht langsam an der Zeit, dass wir in hiesigen Markenlegenden endlich ebenso viel Potenzial sehen wie die Global Player, die sie liebend gern in ihre jeweiligen Luxusfamilien aufnehmen?
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
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