Ich kann mich doch gar nicht entscheiden,
Ist alles so schön bunt hier!
„Ich glotz TV“ (Nina Hagen Band, 1978)
Eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit für diese Zeilen. Und das ist jetzt nicht bloß „Ich bin ja soooo busy“-Wichtigtuerei, das hat ganz handfeste Gründe. Oder vielmehr virtuelle. Mein Jobleben ist dermaßen randvoll mit Videos, dass ich mich mittlerweile zugleich fühle wie der linkische Laiendarsteller im Low-Budget-Film einer Abschlussklasse und als Kinokritiker auf der Berlinale. Kurz vor dem Sehnerv-Kollaps. Einerseits mit steiler Lernkurve, andererseits herumgewirbelt von der Bilderflut. Tägliche Zoom- oder Team-Calls. Logo, geschenkt. Produktpräsentationen, schön old-school mit Powerpoint und Bildschirmteilen. Okidoki. Modenschau per Livestream, ohne Publikum. Gabs schon vor Corona. Kamerafahrten durch Luxusfabriken, geführt vom mal besser mal schlechter ausgeleuchteten Boss. Eher neu, nicht immer glänzend. Weinproben mit teils erst am Folgetag ankommenden Flaschen. Ups, UPS. Beauty-Schulungen samt Einweckgläsern voller Ingredienzien für den nötigen look & smell. Hm. Diskussions-Panels, die entweder so knapp bemessen sind, dass ein Tweet pro Teilnehmer gereicht hätte, oder derart ausufern, dass jede Sekunde Thomas Gottschalk mit betrübter Miene ins Bild spazieren könnte, weil sich „heute“ um 20 Minuten verspätet. Einladungen für Vorab-Premieren von zu Sensationen aufgebauschten Werbeclips, die direkt danach die gesamte YouTube-Gemeinde anschauen kann. Wow. Und puh. Und why?
Nicht, dass ich mit dem mehr oder minder neuen Hightech-Miteinander ein weltanschauliches Problem hätte. Ich bin kein Druckerschwärze-Jünger, der sich schon beim Start von Facebook (Was war das noch?) ein blaues „F“ unters Kopfkissen legte, nur um hoffentlich in einer Welt ohne die einstige College-Kontaktbörse aufzuwachen. Im Gegenteil: Es war ein echter Bastel-Spaß, mein Homeoffice in eine Art Laien-Studio zu verwandeln. Mit bestmöglichem Sound, Licht und ordentlicher Aufnahmequalität nebst einigermaßen effizientem Workflow. Auch für epische Inszenierungsideen habe ich absolut was übrig, schließlich begann meine journalistische Laufbahn mal in (Lichtspiel-)Theatern und an Orchestergräben.
Verständlich zudem, dass mancher Markenlenker das Vakuum eines runter geregelten real life mit audiovisuellem Aktionismus zu füllen versucht. Kaum ein CEO, den man nicht fast monatlich auf irgendeinem digitalen Kanal erleben kann. Hoch engagiert und sichtlich bemüht, die menschliche Nähe, den Handschlag, den flotten Spruch am Messestand, den Off-the-Record-Tratsch annähernd per Glasfaserkabel rüberzubringen. Für zig verschiedene Sprachregionen, Publika und Aufmerksamkeitsspannen. Chapeau! Dagegen waren Dienstreisen und Kundendinner vermutlich der berühmte Ponyhof. Trotz verspäteter Flüge, miefigem Sitznachbarn, Warteschlangen am Taxistand, verkrampftem Lächeln beim xsten kläglichen Scherz im Terminmarathon, dem Tritt in die Pfütze unterwegs zum Cocktailempfang, der peinlichen Pause, während die kurzsichtige Einlass-Fachkraft den eigenen Namen auf dem iPad sucht … Das alles statt vier Stunden Zoom? Sofort.
Gerade kam meine Einladung für Clubhouse. Und da muss man ja offenbar unbedingt dabei sein. Obwohl das bisher eher wirkt wie ein Teams-Meeting, bei dem alle die Kamera ausgeschaltet lassen.
Was ich bei unser aller Ringen um eine annähernde Replik der Normalität anno 2019 im Cyberspace allerdings allmählich beobachte, fangen auch die Seismographen der Wissenschaft mittlerweile auf. Die ermüdende Wirkung ständiger Videoanrufe, auf Englisch „Zoom Fatigue“, beispielsweise. Durch herumirrende Blicke, verzögerte Übertragungen, Lärm aus dem Off, fehlendes mentales Verschnaufen und vieles mehr.
Überdies verliert das new normal als Dauer(werbe)sendung definitiv an Charme. Und reißt manchen zu unflätigem Verhalten hin. Wie den „The New Yorker“-Autor Jeffrey Toobin, der vor laufender Webcam an sich herumfummelte und seine Karriere ins Nirvana schoß. Oder die britische Lehrerin, deren Mikrofon leider aufnahm, dass sie ihre Studenten als „absolute Idioten“ verunglimpfte. Nur modisch dagegen der Fauxpas von Stylist Tan France, der beim Aufstehen im Call vergaß, dass er untenrum noch Pyjamahosen trug.
Noch mehr zum Stirnrunzeln: Die wohl, wird gemunkelt, recht homöopathischen Zuschauerzahlen am virtuellen Laufsteg und eher löchrig besetzten Stuhlreihen bei digitalen Produktlaunches. Vieles, was aufwändig gedreht wird, scheint sich zusehends zu versenden. Groß die Gefahr, dass der Zuschauer zum second oder third screen abdriftet, wie abends vor Netflix, nebenher E‑Mails beantwortet, aufs Klo geht und so zur reinen Metrik-Karteileiche wird. Übersättigt vom Bewegtbild, den austauschbaren Ritualen der Zusammenkünfte, und unterbewusst leidend an der fehlenden Sinnlichkeit und damit verminderter Verankerung im Gehirn.
Neulich hörte ich den Begriff „phygital event“, was wohl als Kreuzung aus körperlich und nur in Bits und Bytes anwesend gedacht ist. Um das genauer (und als sinnstiftend) zu begreifen warte ich gerade noch auf mein Chip-Implantat. Mir scheint der Vergleich richtiger, den IT-Professorin Sheryl Brahnam von der Missouri State University kürzlich beisteuerte: „Eine Video-Konferenz hat ungefähr so viel mit menschlicher Kommunikation zu tun wie ein Blaubeer-Muffin mit einer echten Blaubeere. Und wer zu viele der Muffins isst, kriegt Bauchweh.“ Less bleibt more, im globalen Kampf um die gleichen wachen 16 Stunden des Konsumenten. So schwer es fällt.
Hier der Drang, die Ungewissheit mit frenetischer Umtriebigkeit zu ersticken, den Übersprungshandlungen im Tierreich nicht unähnlich. Wer nichts postet, existiert ja angeblich nicht mehr. Da die omnipräsenten Vorträge und Pamphlete der Trendforscher und Auguren, die von einer Zukunft berichten, die gerade erst entsteht. In unseren Köpfen, Magengruben und Laptops. Bei mancher Prognose wünscht man sich die Präzision von Kaffeesatz und Hühnerknochen zurück.
Nicht zu unterschätzen für HR-Interessierte ist außerdem das schleichende Gefühl, nicht im Büro daheim, sondern in einem winzigen „Big Brother“-Haus zu sitzen, wo sich jederzeit Kollegen und Kontakte dazuschalten könnten.
Was tun? Wahrscheinlich einfach am digitalen Austausch feilen, den Reizempfang und das Sendungsbewusstsein insgesamt drosseln sowie auf eine flächendeckende Impfung hoffen. Zum ersten To-do ein paar Tipps als Finale:
Nach jeder Stunde Video-Meeting unbedingt fünf Minuten Pause. Alle zwei Stunden mindestens 15 Minuten, wie in der Schule. Möglichst gleiche Benchmarks für die Übertragung in Bild und Ton, damit sich nicht einer aus der wackeligen U‑Bahn zuschaltet, der andere mit dem Windows-95-Rechner oder per Dial-up-Modem und das Zuhören zur Tortur wird. Einfache statt exotische Sitzungs-Software, in die sich keiner beim ersten Mal easy einloggen kann. Komfort schlägt Coolness. Definieren, wann alle Teilnehmer zu sehen sind und wann nicht. Das ständige Voll-Plenum stresst. Und, das ist fast am schwierigsten, sich daran gewöhnen, direkt in die Kamera zu schauen, auch wenn das Auge eigentlich auf die Agenda schielen oder einen aufmüpfigen Hund im Blick behalten will, der um Aufmerksamkeit bettelt. Sonst gelingt die Illusion eines „so nah als wären alle da“ nämlich nie.
Doch wie gesagt. Eigentlich habe ich für all das hier gar keine Zeit. Gerade kam meine Einladung für Clubhouse. Und da muss man ja offenbar unbedingt dabei sein. Obwohl das bisher eher wirkt wie ein Teams-Meeting, bei dem alle die Kamera ausgeschaltet lassen. Ein Gruppen-Gespräch. Wie, äh, originell?!?
Siems Luckwaldt ist seit rund 20 Jahren ein Experte für die Welt der schönen Dinge und ein Kenner der Menschen, die diese Welt möglich machen. Ob in seinem aktuellen Job als Lifestyle Director von Capital und Business Punk, für Lufthansa Exclusive, ROBB Report oder das legendäre Financial Times-Supplement How To Spend It.
Oder seinem eigenen Medium LuxusProbleme. Alle zwei Wochen in Ihrer Inbox: seine Sicht auf News und Trends der Branche, aufs moderne Arbeitsleben und Phänomene der Popkultur. Wortgewaltig, pointiert, höchstpersönlich. Und das zu einem gar nicht luxuriösen Preis, nämlich ab 4 Euro pro Monat. Werden Sie jetzt Teil einer extrem attraktiven, hochbegabten Community. Hier geht es direkt zum Abo.