Temu

Die orange Gefahr

Das nervt. Während wir über Insolvenzen sinnieren und uns gegenseitig erklären, warum jetzt nicht die Zeit für Wachstum ist, ziehen asiatische Plattformen mit dreistelligen Zuwachsraten an uns vorbei. Eine davon ist Temu. Stefan Wenzel erklärt, was den orangenen Spreader für chinesische Billigware ab Werk so gefährlich macht.
Stefan wenzel
Ste­fan Wen­zel

Temu gehört zu PDD und wur­de 2022 in den USA gegrün­det. PDD ist ein 2015 in Shang­hai gegrün­de­tes Unter­neh­men, das in Chi­na durch sei­ne Sam­mel­be­stell-App Pin­duo­duo bekannt wur­de und heu­te eine Markt­ka­pi­ta­li­sie­rung von rund 140 Mil­li­ar­den US-Dol­lar hat. Das bedeu­tet, dass Temu zur Finan­zie­rung des vir­tu­el­len Land­raubs Zugang zu (aktu­ell) rela­tiv tie­fen Taschen hat.

In Euro­pa hat Temu im April 2023 sei­ne digi­ta­len Flut­to­re geöff­net und sich inner­halb weni­ger Mona­te an die Spit­ze vie­ler Ran­kings geschwemmt. In Deutsch­land ist Temu die meist­ge­la­de­ne App – noch vor ChatGPT und Whats­App – und auf Platz vier der größ­ten Online-Markt­plät­ze, hin­ter Ama­zon, Ebay und Otto – von denen der­zeit ja nur Ama­zon wächst. Und laut einer aktu­el­len Umfra­ge haben mehr als 26 Pro­zent der Deut­schen in den letz­ten sechs Mona­ten etwas bei Temu bestellt. Völ­lig ver­rückt!

Teil der Wachs­tums­sto­ry ist ein atem­be­rau­ben­der Wer­be­druck, der mit geschätz­ten 2 bis 3 Mil­li­ar­den Dol­lar und vier­stel­li­gen Zuwachs­ra­ten der Aus­ga­ben sogar die Prei­se im digi­ta­len Wer­be­markt für alle Wer­be­trei­ben­den in die Höhe treibt. Gold­man Sachs schätzt, dass Temu im ver­gan­ge­nen Jahr rund 1,2 Mil­li­ar­den Dol­lar allein für Meta-Wer­bung aus­ge­ge­ben hat. Damit hat Temu in den USA geschätzt bereits so viel Traf­fic wie Walmart.com. Und anders als beim mitt­ler­wei­le anschei­nend deut­lich unter Druck gera­te­nen Vor­zei­ge­kon­kur­ren­ten Shein sind die Kun­den von Temu nicht GenZ und jun­ge Fami­li­en, son­dern laut Bloom­berg vor allem Baby­boo­mer und GenX mit ent­spre­chen­der Kauf­kraft.

Das Ange­bot von Temu besteht aus chi­ne­si­schen Pro­duk­ten ab Fabrik (zur Beschleu­ni­gung der Logis­tik in den USA ab März auch über US-Händ­ler, Euro­pa folgt). Die Fabrik muss zu Groß­han­dels­prei­sen an den End­ver­brau­cher ver­kau­fen, Temu küm­mert sich um die Lis­tung, das Mar­ke­ting, die Abwick­lung, den Kun­den­ser­vice und die wei­te­re Preis­ge­stal­tung, die in der Regel aus zusätz­li­chen Rabatt­ak­tio­nen besteht. Die­se Rabatt­ak­tio­nen wer­den nicht vom ver­kau­fen­den Her­stel­ler bezahlt, son­dern von Temu als Teil sei­ner Inves­ti­ti­on in die Kun­den­ak­ti­vie­rung.

Auf Regulierung, Kundenabwanderung durch schlechte Kauferlebnisse oder das Ende der Finanzierung zu hoffen, ist erlaubt. Es dabei zu belassen aber riskant.

Das Sup­p­ly-Modell “Chi­na ab Werk” und das damit erreich­te Preis­ni­veau sind die offen­sicht­lichs­ten Inno­va­tio­nen, der anschei­nen­de Umgang mit gel­ten­der Regu­la­to­rik ein Ant­ago­nist. Die Art und Wei­se, wie die Kun­den in der App spie­le­risch auf Kon­sum­kurs gebracht wer­den, wird in ihrer Wir­kung aber ver­mut­lich unter­schätzt. Emo­ti­ons­for­scher haben gemes­sen, wie die App unter­schwel­lig Gefüh­le und damit Ver­hal­ten beein­flusst. Was auf den ers­ten Blick nach Reiz­über­flu­tung, bun­ten Exzes­sen und Spie­le­rei­en in der App aus­sieht, greift in die Trick­kis­te der Neu­ro­wis­sen­schaf­ten: Kri­ti­sches Den­ken wird durch Nut­zungs­stress über­la­gert und durch ein­fa­che Mecha­ni­ken wie vir­tu­el­le Geschen­ke, Erfolgs­er­leb­nis­se in klei­nen Spie­len mit Gut­schei­nen oder Gra­tis­ar­ti­keln als Gewinn wird Kauf­be­reit­schaft durch Dopa­min erzeugt. Das Ergeb­nis sind grö­ße­re Waren­kör­be als gewünscht und häu­fi­ge­re Bestel­lun­gen. Bei­des wesent­li­che Hebel auf die mis­si­ons­kri­ti­schen Unit Eco­no­mics.

Dass es der­zeit zumin­dest zu funk­tio­nie­ren scheint, zeigt das Ver­hält­nis von täg­lich zu monat­lich akti­ven Nut­zern der App. Das stieg laut Medi­a­Ra­dar von 9 Pro­zent im Sep­tem­ber 2022 auf 20 Pro­zent im Okto­ber 2023. Und die kol­por­tier­ten durch­schnitt­li­chen Waren­kör­be sind nicht weit von denen eines Zalan­dos oder About Yous ent­fernt, was bei einem Bruch­teil des durch­schnitt­li­chen Ver­kaufs­prei­ses eine beein­dru­cken­de Arti­kel-Anzahl je Bestel­lung bedeu­tet. Im Ergeb­nis Tur­bo­kon­sum von Weg­werf­wa­re im ver­nunft­ver­ne­bel­ten Dopa­min­rausch.

Und was bedeu­tet das für uns? Im Wett­be­werb um die Preis­füh­rer­schaft dürf­ten die Gewin­ner gegen (noch) sub­ven­tio­nier­te asia­ti­sche Ab-Werk-Model­le fest­ste­hen. Auf Regu­lie­rung, Kun­den­ab­wan­de­rung durch schlech­te Kauf­erleb­nis­se oder das Ende der Finan­zie­rung zu hof­fen, ist erlaubt. Es dabei zu belas­sen aber ris­kant.

Die gute Nach­richt: Ob mit oder ohne Temu, die bes­te Ant­wort ist immer Wert statt Preis. Und wer nicht weiß, wie er Wert für sei­ne Kun­den schaf­fen kann, soll­te vom Beob­ach­tungs- oder Beschwer­de-Modus in den Inno­va­ti­ons­mo­dus wech­seln. Auch hier: Kanal egal.

Ste­fan Wen­zel ist seit mehr als 20 Jah­ren im Digi­ta­len Han­del und einer der pro­fi­lier­tes­ten Köp­fe der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet unter ande­rem Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tail­or Digi­tal. Ste­fan Wen­zel unter­stützt Fir­men, Grün­der und Geschäfts­füh­rer als digi­ta­ler Bei­rat, ist regel­mä­ßi­ger Spre­cher auf Fach­kon­fe­ren­zen, Inter­­­­­view- und Pod­­­­­cast-Gast. www.stefanwenzel.com

Bei­trä­ge von Ste­fan Wen­zel

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