Temu gehört zu PDD und wurde 2022 in den USA gegründet. PDD ist ein 2015 in Shanghai gegründetes Unternehmen, das in China durch seine Sammelbestell-App Pinduoduo bekannt wurde und heute eine Marktkapitalisierung von rund 140 Milliarden US-Dollar hat. Das bedeutet, dass Temu zur Finanzierung des virtuellen Landraubs Zugang zu (aktuell) relativ tiefen Taschen hat.
In Europa hat Temu im April 2023 seine digitalen Fluttore geöffnet und sich innerhalb weniger Monate an die Spitze vieler Rankings geschwemmt. In Deutschland ist Temu die meistgeladene App – noch vor ChatGPT und WhatsApp – und auf Platz vier der größten Online-Marktplätze, hinter Amazon, Ebay und Otto – von denen derzeit ja nur Amazon wächst. Und laut einer aktuellen Umfrage haben mehr als 26 Prozent der Deutschen in den letzten sechs Monaten etwas bei Temu bestellt. Völlig verrückt!
Teil der Wachstumsstory ist ein atemberaubender Werbedruck, der mit geschätzten 2 bis 3 Milliarden Dollar und vierstelligen Zuwachsraten der Ausgaben sogar die Preise im digitalen Werbemarkt für alle Werbetreibenden in die Höhe treibt. Goldman Sachs schätzt, dass Temu im vergangenen Jahr rund 1,2 Milliarden Dollar allein für Meta-Werbung ausgegeben hat. Damit hat Temu in den USA geschätzt bereits so viel Traffic wie Walmart.com. Und anders als beim mittlerweile anscheinend deutlich unter Druck geratenen Vorzeigekonkurrenten Shein sind die Kunden von Temu nicht GenZ und junge Familien, sondern laut Bloomberg vor allem Babyboomer und GenX mit entsprechender Kaufkraft.
Das Angebot von Temu besteht aus chinesischen Produkten ab Fabrik (zur Beschleunigung der Logistik in den USA ab März auch über US-Händler, Europa folgt). Die Fabrik muss zu Großhandelspreisen an den Endverbraucher verkaufen, Temu kümmert sich um die Listung, das Marketing, die Abwicklung, den Kundenservice und die weitere Preisgestaltung, die in der Regel aus zusätzlichen Rabattaktionen besteht. Diese Rabattaktionen werden nicht vom verkaufenden Hersteller bezahlt, sondern von Temu als Teil seiner Investition in die Kundenaktivierung.
Auf Regulierung, Kundenabwanderung durch schlechte Kauferlebnisse oder das Ende der Finanzierung zu hoffen, ist erlaubt. Es dabei zu belassen aber riskant.
Das Supply-Modell “China ab Werk” und das damit erreichte Preisniveau sind die offensichtlichsten Innovationen, der anscheinende Umgang mit geltender Regulatorik ein Antagonist. Die Art und Weise, wie die Kunden in der App spielerisch auf Konsumkurs gebracht werden, wird in ihrer Wirkung aber vermutlich unterschätzt. Emotionsforscher haben gemessen, wie die App unterschwellig Gefühle und damit Verhalten beeinflusst. Was auf den ersten Blick nach Reizüberflutung, bunten Exzessen und Spielereien in der App aussieht, greift in die Trickkiste der Neurowissenschaften: Kritisches Denken wird durch Nutzungsstress überlagert und durch einfache Mechaniken wie virtuelle Geschenke, Erfolgserlebnisse in kleinen Spielen mit Gutscheinen oder Gratisartikeln als Gewinn wird Kaufbereitschaft durch Dopamin erzeugt. Das Ergebnis sind größere Warenkörbe als gewünscht und häufigere Bestellungen. Beides wesentliche Hebel auf die missionskritischen Unit Economics.
Dass es derzeit zumindest zu funktionieren scheint, zeigt das Verhältnis von täglich zu monatlich aktiven Nutzern der App. Das stieg laut MediaRadar von 9 Prozent im September 2022 auf 20 Prozent im Oktober 2023. Und die kolportierten durchschnittlichen Warenkörbe sind nicht weit von denen eines Zalandos oder About Yous entfernt, was bei einem Bruchteil des durchschnittlichen Verkaufspreises eine beeindruckende Artikel-Anzahl je Bestellung bedeutet. Im Ergebnis Turbokonsum von Wegwerfware im vernunftvernebelten Dopaminrausch.
Und was bedeutet das für uns? Im Wettbewerb um die Preisführerschaft dürften die Gewinner gegen (noch) subventionierte asiatische Ab-Werk-Modelle feststehen. Auf Regulierung, Kundenabwanderung durch schlechte Kauferlebnisse oder das Ende der Finanzierung zu hoffen, ist erlaubt. Es dabei zu belassen aber riskant.
Die gute Nachricht: Ob mit oder ohne Temu, die beste Antwort ist immer Wert statt Preis. Und wer nicht weiß, wie er Wert für seine Kunden schaffen kann, sollte vom Beobachtungs- oder Beschwerde-Modus in den Innovationsmodus wechseln. Auch hier: Kanal egal.
Stefan Wenzel ist seit mehr als 20 Jahren im Digitalen Handel und einer der profiliertesten Köpfe der Branche. Seine Vita beinhaltet unter anderem Stationen als Geschäftsführer für Unternehmen wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digital. Stefan Wenzel unterstützt Firmen, Gründer und Geschäftsführer als digitaler Beirat, ist regelmäßiger Sprecher auf Fachkonferenzen, Interview- und Podcast-Gast. www.stefanwenzel.com